Der Altman-Code
habe ich von den uigurischen politischen Gefangenen hier im Lager erfahren.« Thayer schob die Suppenschale beiseite. »Das war der Punkt, an dem ich mir gestattete, etwas Hoffnung zu hegen. Vielleicht bestand eine Chance, dass ich im Zuge der Massenentlassungen politischer Häftlinge übersehen und ebenfalls freigelassen würde.« Er stand auf und ging zu seiner Kochplatte.
Chiavelli beobachtete ihn mit halb geschlossenen Augen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters – Klein zufolge musste Thayer mindestens zweiundachtzig sein – war sein Gang energisch, sicher und fest. Seine Haltung war aufrecht, aber locker. Inzwischen war sogar etwas Federndes in seinem Schritt, als hätte er in den fünfzehn Minuten, die sie sich unterhalten hatten, Jahre abgestreift. Das alles war wichtig.
Die Alltagsroutine hatte Thayer geholfen, sich seine geistige Gesundheit zu erhalten. Er nahm einen abgesprungenen Emaillekessel, trug ihn zu dem abgenutzten Waschbecken, füllte ihn und stellte ihn auf die Kochplatte. Dann holte er zwei angeschlagene Tassen und eine Dose mit schwarzem Tee aus einem kleinen Schrank. Seine Art, Tee zu machen, war eine seltsame Kombination aus traditioneller englischer und chinesischer Zubereitungsmethode. Zunächst goss er etwas kochendes Wasser in die Kanne aus Ton und schüttete es weg, bevor er vier Teelöffel Tee hineingab. Dann goss er sofort frisches kochendes Wasser darauf und ließ den Tee weniger als eine Minute ziehen. Das Ergebnis war eine helle, goldbraune Flüssigkeit. Das Aroma erfüllte die Zelle.
»Wir trinken ihn ohne Milch oder Zucker.« Er gab Chiavelli eine Tasse.
Der Agent setzte sich auf, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und umschloss die Tasse mit beiden Händen.
Thayer setzte sich mit seiner an den Tisch. Er seufzte.
»Langsam fange ich an einzusehen, dass die Hoffnung, wegen des Abkommens freizukommen, nur der Wunschtraum eines alten Mannes ist, dessen Tage gezählt sind.
Sie haben zu lange geheim gehalten, dass sie mich eingesperrt haben, um plötzlich zugeben zu können, dass ich überhaupt festgehalten wurde. Denn dann würden ihre Verstöße gegen die Menschenrechte noch krasser erscheinen.« Chiavelli trank. Für seinen italienisch-amerikanischen Gaumen war der Tee leicht und mild, aber er war heiß, eine willkommene Annehmlichkeit in der ungeheizten Baracke. »Wie ist es dazu eigentlich gekommen, Dr. Thayer? Warum wurden Sie überhaupt festgenommen?« Thayer setzte seine Tasse ab und blickte hinein, als könnte er darin die Vergangenheit sehen. Dann schaute er wieder auf. »Ich war als Verbindungsoffizier zu Chiang Kaisheks Leuten eingesetzt. Meine Hauptaufgabe bestand vor allem darin, auf eine Entspannung des Klimas zwischen seinen Nationalisten und Maos Kommunisten hinzuarbeiten. Deshalb dachte ich, dazu könnte ich am besten beitragen, wenn ich Mao persönlich aufsuchte und mit ihm verhandelte.« Sein Lächeln war mehr eine Grimasse. »Wie absurd. Wie naiv. Was ich natürlich nicht begriffen hatte, war, dass meine eigentliche Mission darin bestand, dafür zu sorgen, dass Chiang Kaishek an der Macht blieb. Ich sollte Abkommen schließen, Gespräche führen und Zeit gewinnen, bis Chiang Kaishek Mao und die Kommunisten endgültig schlagen könnte. Mao aufzusuchen war also die idealistische Idee eines blauäugigen Intellektuellen, der glaubte, Menschen könnten auch dann vernünftig miteinander reden, wenn Machtverhältnisse, Werte, Kulturen, Ideen, Klassen, Besitzende, Nicht-Besitzende und weltpolitische Einflusssphären in Konflikt miteinander standen.«
»Sie haben es also tatsächlich versucht? Sie haben Mao ganz allein aufgesucht?« Chiavelli klang gleichermaßen erstaunt wie bestürzt.
Thayer lächelte verhalten. »Ich habe es versucht. Kam aber nicht zu ihm durch. Seine Armee meinte, ich sei ein Agent des Westens oder Chiang Kaisheks oder beider.
Natürlich verhafteten sie mich. Hätten Maos Politiker nicht wegen meines diplomatischen Status interveniert, hätten mich die Soldaten erschossen. Im Lauf der Jahre habe ich mir oft gewünscht, das hätten sie auf der Stelle getan.«
»Warum haben sie Sie für tot erklärt und dann die ganze Zeit festgehalten – so ähnlich, wie die Sowjets Wallenberg festgehalten haben?«
»Raoul Wallenberg? Soll das heißen, er befand sich tatsächlich in den Händen der Sowjets?«
»Sie leugneten es, ließen ihn nie frei und dementierten fünfzig Jahre lang hartnäckig, ihn jemals eingesperrt zu haben. Er starb schon
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