Der Altman-Code
Orientierungsgefühl verloren. Seine Muskeln schmerzten, seine Lungen brannten. Inzwischen mussten sie im alten Shanghai oder in der Französischen Konzession sein. Doch dann tauchten sie wieder in die Menschenmassen auf der Nanjing Dong Lu ein, wo es nur so wimmelte von Schaufensterbummlern, Kneipengängern, Touristen, Kleinkriminellen, Taschendieben und Männern auf der Suche nach der Sorte Frauen, die wie auf ein geheimes Zeichen hin wieder in der Stadt aufgetaucht waren, als »freie« Marktwirtschaft zum neuen Ziel des Sozialismus erkoren wurde.
»Die U-Bahn! Los. Kommen Sie! « Mahmout stürmte die Treppe hinunter, durchquerte mit einer Dauerkarte die Sperre und steckte sie dann Smith zu.
Der folgte ihm auf einen hell beleuchteten Bahnsteig.
So spät am Abend warteten nur noch wenige Menschen auf die U-Bahn. Nervös behielten Smith und Mahmout die Zugänge scharf im Auge, als sie schweißüberströmt den Bahnsteig entlanggingen. Als endlich eine U-Bahn einfuhr, stiegen sie rasch ein.
Smith holte tief Luft, als der Zug losfuhr und der Bahnsteig hinter ihnen verschwand. »Gut gemacht«, sagte er in dem fast leeren Waggon zu Mahmout. »Aber einen guten Fremdenführer werden Sie wohl nie abgeben. Sie lassen einem nicht genügend Zeit, sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen.« Mahmouts Gesicht glänzte von Schweiß, sein Mienenspiel schwankte wie immer zwischen finster und neutral.
Aber plötzlich grinste er verschmitzt. Die Haut um seine schwarzen Augen bildete tiefe Lachfalten. »Sie sehen einiges offensichtlich völlig falsch, Colonel.« Smith musste sich erst noch an den britischen Akzent dieses seltsamen Vogels gewöhnen, der aussah, als könnte er Chinese sein, obwohl er es wahrscheinlich nicht war. »Ich brauche eben ganz spezielle Touristen, Leute, denen mehr an einer guten Kondition liegt als an spektakulären Fotos. Abgesehen davon, braucht man dafür eine Genehmigung, und die werde ich hier bestimmt nicht kriegen.«
»Nicht?«
»Jedenfalls nicht, wenn dabei die Polizei ein Wörtchen mitzureden hat. Irgendwie scheinen sie mich auf dem Kieker zu haben.«
»Passiert Ihnen so was öfter?«
»Warum, glauben Sie wohl, bin ich so ein Prachtexemplar? Ich mag vielleicht in China leben, aber was Partei, Regierung oder Minderheiten angeht, nehme ich trotzdem kein Blatt vor den Mund. Ich bin alles andere als beliebt bei den Handlangern dieser Gauner, die sich als politische Führung des Landes bezeichnen.« Der U-Bahnwaggon war sauber und bequem. Als sie an der nächsten Station hielten, stieg Mahmout aus und sah den Bahnsteig hinauf und hinunter. Dann stieg er kopfschüttelnd wieder ein.
»Probleme?«
»Die Ausgänge sind von Polizei bewacht. Das kann nur heißen, die öffentliche Sicherheit weiß, dass wir die U-Bahn genommen haben.«
»Aber woher wissen sie, in welcher Richtung?«
»Das wissen sie ja nicht. Sonst hätten sie Geheimpolizei auf den Bahnsteigen postiert, keine normalen Polizisten. Die Geheimpolizei wartet darauf, dass wir entdeckt werden.«
»Das gefällt mir gar nicht.«
»Mir schon«, sagte Mahmout. »Es verschafft uns einen kleinen Vorteil. Die Polizei wird uns nicht festnehmen, sondern warten, bis die Geheimpolizei eintrifft.« Die U-Bahn fuhr wieder an. Zwei Stationen später sagte Mahmout: »An der nächsten Haltestelle, am Jing-An-Tempel, steigen wir aus. Mein Gesicht haben sie nie richtig zu sehen bekommen, und in diesen Kleidern könnte ich jeder x-beliebige Chinese sein. Und was Sie angeht, kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, dass man Sie in der Station anhalten wird. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht. Ich werde Ihnen sagen, welchen Ausgang Sie nehmen sollen, und dann gehen Sie einfach mit den anderen Fahrgästen nach draußen. Ich bleibe ein Stück hinter Ihnen – für den Fall, dass Sie angehalten werden.
Dann gehen wir gemeinsam auf sie los.«
»Und was dann?«
»Dann laufen wir wieder.«
»Klasse. Ich kann’s kaum erwarten.« Unter Mahmouts Schnurrbart kamen weiße, ebenmäßige Zähne zum Vorschein, als er breit grinste. Die U-Bahn schoss in die hell erleuchtete Station, und als sie anhielt, spähte er aus den Fenstern. »Steigen Sie mit allen anderen aus. Gehen Sie nach links in Richtung Bahnsteigende. Sie werden an drei Ausgängen vorbeikommen. Nehmen Sie den vorletzten.« In diesem Moment öffneten sich auch schon die Türen.
»Okay.« Smith stieg mit einer Gruppe Fahrgäste aus.
Er folgte denen, die sich nach links wandten. Weniger als ein Viertel von ihnen
Weitere Kostenlose Bücher