Der amerikanische Investor (German Edition)
fürchtest du diesen Brief so sehr? Befürchtest du, dass es für dich, wenn ich diesen Brief erst einmal in den Händen halte, keinen Platz mehr in meinem Flugzeug geben wird? Oder fürchtest du dich vor der Kraft dieser Worte und der Begeisterung, die sie in mir entfachen werden? Sieh mich an, my friend! Du fürchtest dich vor der Zukunft, dem freien Fall und dem Fortschritt, der dich zermalmen wird. Du fürchtest dich vor dem Briefkasten unter dem linken Flügel, genauso wie du dich vor dem Briefkasten unter dem rechten Flügel fürchtest. Am meisten aber fürchtest du dich davor, dass dort unten bereits ein neuer Diener auf mich wartet, ein Mensch, der schon seit Wochen sehnsuchtsvoll in den Himmel blickt und vor Tatkraft glüht. Oh wie wünschte ich, my friend, ich könnte seinen Brief endlich in den Händen halten, aber ich brauche Geduld. Ich brauche Geduld mit ihm und ich brauche Geduld mit der Stadt, in der er lebt, denn sie ist groß und leer und die Menschen schleichen grau und vergreist durch die öden Straßen. Niemand, der grüßt, und niemand, der lächelt. Niemand, der einem anderen einen aufmunternden Blick schenken würde. Kein Erbarmen gibt es in dieser Stadt. Nicht einmal mit einer alten Frau. Fast sagenhafte hundert Jahre zählt sie jetzt. Seit Ewigkeiten hat sie keinen Besuch mehr empfangen, kein Verwandter, der mal kurz und fröhlich hereinschneit, kein Nachbar, der einfach mal klopft, kein Hausmeister, der nach dem Rechten sieht. Wie vergessen lebt sie hinter ihren ergrauten Gardinen, und der Einzige, der sich ihrer in Zukunft annehmen will, ist der Mann, von dem ich dir jetzt erzählen werde. Er lebt nur ein paar Schritte von dieser Wohnung entfernt im Nachbarhaus. Gerade liegt er auf seinem Bett, starrt an die Decke und versucht eine Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Aber weshalb zögert er noch? Warum springt er nicht auf und eilt an den Schreibtisch? Vertraut er seinen Worten nicht? Sag mir doch endlich, was mit ihm los ist, my friend! Seit Wochen warte ich vergeblich auf seinen Brief. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Morgens, die Augen habe ich noch geschlossen, blitzt erst der eine, dann der andere Briefkasten vor mir auf. Warum schreibt er mir nicht? Nur deshalb unterziehe ich ihn doch dieser besonderen Prüfung, damit ich endlich ein paar Zeilen von ihm in der Hand halten kann. Die Küche der Wohnung, in der er lebt, ist so baufällig, dass er sie kaum zu betreten wagt, und wenn er für wenige Minuten in die Badewanne steigt, lässt er neuerdings immer seine Unterhose an, weil er fürchtet, sonst nackt, samt Wanne, in das untere Stockwerk zu stürzen. Was soll ich denn sonst noch tun, my friend? Sag es mir bitte! Es kann doch nicht sein, dass dies alles noch immer nicht Grund genug ist, endlich zum Stift zu greifen. Was würde ich darum geben, wenn er mich wenigstens für eine Sekunde hier oben am Himmel erblicken könnte, einen erwartungsfrohen Menschen, der ihm in diesem Moment zuruft: Steh auf und fang einfach an. Du wirst schon in die Sätze hineinfinden. Vielleicht genügt ein einziges Wort. Mich zum Beispiel würde ein einziges Wort schon beglücken. Versieh es mit einer Briefmarke und schick es zu uns hi nauf. Selbst mein Diener, der gerade vor mir steht, ist so anspruchslos, dass ihn ein einziges Wort schon beleben würde. Wir haben doch nur dich, mein Freund. Einsam ziehen wir über der Welt dahin. Keine Frau, die uns abends noch in den Arm nimmt, keine Kinder, die uns morgens mit ihrer Munterkeit erfreuen. Immer sehen wir nur auf die Wolken hinab. Das Flugzeug ist unser einziger Besitz, und natürlich noch der Geigenkasten meines Dieners. Tagsüber, in seiner Kochnische, beugt er sich immer wieder zu dem Kasten hinab, um ihn mit seinen Lippen zu berühren, und nachts, nachdem er mir die letzte Tafel Schokolade gebracht hat, nimmt er den Geigenkasten mit auf seine Pritsche und drückt ihn dort fest an seine Brust. Sein Vater ist in diesem Kasten und sein Großvater und neben seinem Großvater haust sein Urgroßvater und auch dessen Vater stimmt schon wieder seine Geige und da jetzt einer von ihnen, mit einem Blick zu den anderen, mit dem Kopf nickt, heben sie ihre Instrumente zum Hals. So spielen sie die ganze Nacht und rauben mir den Schlaf. Morgens, wenn mein Diener von der Pritsche steigt und mir die erste Tafel Schokolade bringt, trägt er noch immer glückselig dieses Lächeln der Nacht in seinem Gesicht, ein uraltes, runzliges und totes Lächeln, das ich ihm
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