Der Angriff
Schließlich trat Rapp einen Schritt zurück und ließ sie beide in das kleine Zimmer eintreten.
36
SEALs sitzen nicht gern tatenlos herum, wenn es etwas zu tun gibt – und schon gar nicht dann, wenn einer der Ihren getötet wurde. Für Lt. Commander Harris war es Zeit, in Aktion zu treten – doch in Anbetracht der jüngsten Ereignisse konnte es sein, dass ein Einsatz in weite Ferne rückte. Nachdem Aziz in seiner Ansprache von einem zurückgeschlagenen Angriff gesprochen hatte, stellte die Presse eine Menge Fragen. Was sogar dazu führen konnte, dass das Pentagon, so wie es früher schon des Öfteren der Fall gewesen war, der Presse einen Sündenbock lieferte, um die Gemüter zu beruhigen. Geopfert wurde dann zumeist der Kommandeur der betreffenden Einheit, und das war in diesem Fall niemand anders als Lt. Commander Dan Harris.
Während Harris zusammen mit Mick Reaves vom mobilen Kommandoposten am Ostzaun des Weißen Hauses zum Old Post Office schritt, erregten sie kaum noch Aufmerksamkeit. Jetzt, am dritten Tag der Krise, hatte man sich offenbar daran gewöhnt, überall schwer bewaffnete Männer in schwarzen Overalls herumlaufen zu sehen. Als sie das Haus erreichten, wartete dort bereits Charlie Wicker auf sie. Zusammen traten sie in das Old Post Office ein und machten sich sogleich auf den Weg zum Turm, in dem eine knarrende enge Treppe nach oben führte. Die drei SEALs stürmten die Treppe hoch und gelangten schließlich über eine Luke auf den Turm hinaus. Abgesehen vom Washington Monument hatte man wohl von keinem anderen Gebäude der Stadt eine derartige Aussicht wie von diesem über hundert Meter hohen Standpunkt. Von diesem Adlerhorst aus blickten die drei SEALs nun über die Pennsylvania Avenue und das Treasury Building hinweg und sahen vor sich in der strahlenden Nachmittagssonne das Weiße Haus.
Wicker holte ein Fernglas mit Laser-Entfernungsmesser hervor und reichte es seinem Kommandeur. Harris blickte zum Dach des Weißen Hauses hinüber und fand schließlich die kleine Wachkabine. Er sah den vermummten Mann hinter der bläulich schimmernden kugelsicheren Plexiglaswand sitzen und drückte auf einen Knopf. Eine Sekunde später erschienen drei rote Ziffern. Harris gab das Fernglas an Reavers weiter und wandte sich Wicker zu.
»Achthundertzwanzig Meter?«
»Ja«, sagte Wicker und nickte zuversichtlich.
»Wie ist die Wettervorhersage für heute Nacht?«
»Ganz leichter Wind aus Südosten, zwischen fünf und zehn Stundenkilometer.«
Harris nickte. Solche Voraussetzungen waren für Wicker ein Kinderspiel. Er hätte sein Ziel bei einem Wind von zehn Stundenkilometern auch über die doppelte Entfernung getroffen. »Was ist mit der Plexiglaswand?«
»Die ist etwas über einen Zentimeter dick. Ich habe so eine Wand schon mal geknackt«, antwortete Wicker, seiner Sache absolut sicher.
»Trotzdem müssen wir absolute Gewissheit haben«, wandte Harris ein. »Wir müssen wissen, wie alt das Glas ist, und alle Daten des Herstellers studieren, die wir bekommen können.«
»Die Wand wurde zweiundneunzig eingesetzt und soll nächstes Jahr ausgewechselt werden. Ich habe die Testdaten des Herstellers studiert und habe alle Informationen, die ich brauche, hier drin«, sagte Wicker und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Ich könnte den Job sogar erledigen, wenn das Glas ganz neu wäre. Aber es ist jetzt seit sieben Jahren der Sonne ausgesetzt – das heißt, dass die Härte um mindestens sechzig Prozent abgenommen hat. Zwei Schüsse genügen bestimmt – vielleicht sogar ein einziger.«
Harris war etwas überrascht, dass Wicker bereits alle nötigen Informationen gesammelt hatte. »Wie hast du das alles herausgefunden?«, fragte er.
»Ich habe mit ein paar Kollegen vom Secret Service gesprochen.«
»Wann?«, wollte Harris wissen.
»Vor zwei Tagen.«
Harris lächelte. Es gefiel ihm sehr, wenn seine Männer Initiative zeigten und selbstständig arbeiteten. »So lang denkst du schon an diesen einen Schuss?«
Wicker wandte sich ihm zu, ein durchtriebenes Grinsen auf den Lippen. »Ich denke an diesen Schuss, seit wir vor acht Jahren diese Übung gemacht haben.«
Harris wusste, von welcher Übung Wicker sprach. Er sah den Scharfschützen ebenfalls mit einem Lächeln an und sagte: »Erzähl das ja niemandem. Die Jungs vom Secret Service haben vielleicht kein Verständnis für dein berufliches Interesse.«
»Oh, die verstehen das schon«, erwiderte Wicker. »Wir haben uns oft über
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