Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
Gesichtsausdruck eines Farmers, der ein großes Ufo über seinem Nordfeld schweben sah.
    »Jagen. Sie gehen jagen. Setz dich, Lennie.«
    Vince Knowles würde niemals Schauspieler werden – was er wahrscheinlich werden würde, war Verkäufer bei Jodie Chrysler-Dodge wie sein Vater –, aber eine großartige schauspielerische Leistung konnte alle übrigen Akteure mitreißen, und das war heute Abend passiert. Vince, der bei den Proben nur sehr selten glaubwürdig gewirkt hatte (hauptsächlich weil er mit seinem gewitzten Rattengesicht Steinbecks George Milton war), war ein bisschen von Mike angesteckt worden. Plötzlich, ungefähr in der Mitte des ersten Akts, hatte er begriffen, was es bedeutete, mit Lennie als einzigem Freund ziellos durchs Leben zu wandern, und füllte nun seine Rolle aus. Als ich jetzt beobachtete, wie er seinen alten Filzhut aus dem Fundus nach hinten schob, fand ich, dass Vince wie Henry Fonda in Die Früchte des Zorns aussah .
    »George!«
    »Was?«
    »Machst du mir nicht die Hölle heiß?«
    »Wie meinst du das?«
    »Du weißt schon George.« Ein Lächeln. Ein Lächeln, das Schon klar, ich weiß, dass ich ein Dummkopf bin, aber wir wissen beide, dass ich nichts dafür kann besagte. Jetzt setzte er sich neben George ans imaginäre Flussufer. Nahm den eigenen Hut ab, warf ihn zur Seite, rubbelte sich die kurzen, blonden Haare. Imitierte Georges Stimme. Die hatte Mike schon bei der ersten Probe mit unheimlicher Mühelosigkeit gemeistert. »›Ich könnt es so leicht und schön haben, wenn ich allein wär. Ich könnt einen Job kriegen und hätt keinen Ärger.‹« Dann wieder mit seiner eigenen Stimme … oder vielmehr mit Lennies Stimme … »Ich kann weggehen. Ich geh rauf in die Hügel und such mir ’ne Höhle, wenn du mich nicht willst.«
    Vince Knowles senkte den Kopf, und als er ihn wieder hob und die nächste Zeile sprach, war seine Stimme heiser und stockend. Aus ihr sprach ein Kummer, den er selbst bei den besten Proben noch nie derart überzeugend rübergebracht hatte. »Nein, Lennie. Ich will, dass du hier bei mir bleibst.«
    »Dann erzähl mir so wie früher! Über die anderen und über uns.«
    An dieser Stelle hörte ich das erste Schluchzen aus dem Publikum. Gleich darauf noch eines. Dann ein drittes. Das hatte ich selbst in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken, und ich sah unauffällig zu Mimi hinüber. Sie weinte noch nicht, doch ihre feucht glänzenden Augen zeigten mir, dass sie es bald tun würde. Ja, sogar sie, obwohl sie echt hartgesotten war.
    George zögerte, dann ergriff er Lennies Hand, was Vince bei den Proben niemals getan hätte. Das ist Schwulenkram, hätte er gesagt.
    »Welche wie wir … Lennie, welche wie wir haben keine Familie. Sie legen ’n bisschen was auf die hohe Kante, und dann geben sie’s wieder aus. Sie haben niemand auf der Welt, der sich auch nur einen Deut um sie kümmert …« Mit der anderen Hand berührte er die Requisitenpistole unter seiner Jacke. Zog sie halb heraus. Schob sie wieder hinein. Gab sich dann einen Ruck und zog sie ganz heraus. Legte sie neben sein Bein.
    »Aber uns kann das nicht passieren, George!«, rief Lennie glück lich. »Erzähl jetzt von uns.«
    Mike war nicht mehr da. Die Bühne war nicht mehr da. Es gab nur noch die beiden, und als Lennie George bat, ihm von der kleinen Farm und den Kaninchen und dem schönen Landleben zu erzählen, weinte die Hälfte des Publikums hörbar. Vince weinte so heftig, dass er seinen Schlusstext kaum sprechen konnte, um den armen, dummen Lennie aufzufordern, nach dort drüben zu sehen, weil die Farm, auf der sie leben würden, dort drüben liege. Wenn er ganz genau hinsah, würde er sie erkennen.
    Auf der Bühne wurde es langsam dunkel, als Cindy McComas die Beleuchtung ausnahmsweise perfekt steuerte. Birdie Jamieson, der Schulhausmeister, feuerte die Platzpatrone ab. Irgendeine Frau im Publikum stieß einen kleinen Schrei aus. Auf eine solche Reaktion folgte normalerweise nervöses Lachen, aber heute war nur zu hören, wie die Leute auf ihren Plätzen weinten. Sonst herrschte Schweigen. Es hielt zehn Sekunden lang an. Vielleicht waren es auch nur fünf. Dann brach der Beifall los. Das gewaltigste Tosen, das ich in meinem Leben je gehört hatte. Die Saalbeleuchtung ging an. Das Publikum applaudierte stehend. Die beiden ersten Reihen waren für Lehrkräfte reserviert, und mein Blick fiel zufällig auf Coach Borman. Teufel, sogar er

Weitere Kostenlose Bücher