Der Anschlag - King, S: Anschlag
der Überschrift FACHBEREICH NATURWISSENSCHAFTEN auf. Darunter ein nicht sehr einfallsreiches Gruppenfoto von vier Lehrern, die in weißen Laborkitteln dampfende Phiolen hochhielten – was wohl an Dr. Jekyll erinnern sollte –, und dann folgten vier Porträtfotos. John Clayton sah Lee Oswald überhaupt nicht ähnlich, hatte jedoch ebenso ein angenehmes Allerweltsgesicht, und seine Mundwinkel waren zu dem gleichen angedeuteten Lächeln hochgezogen. War das leichte Belustigung oder kaum getarnte Verachtung? Teufel noch mal, vielleicht war dies einfach nur das Beste, wozu der von Zwangsvorstellungen beherrschte Hundesohn imstande gewesen war, als der Fotograf ihm den »Cheese«-Befehl gegeben hatte. Auffällig an seinem Gesicht waren nur die leicht eingesunkenen Schläfen, die irgendwie zu den Grübchen an den Mundwinkeln passten. Auf diesem Schwarz-Weiß-Foto waren seine Augen so hell, dass sie auf mich blau oder grau wirkten.
Ich drehte das Buch um, damit meine Freunde ihn betrachten konnten. »Sehen Sie diese eingesunkenen Schläfen? Sind das ganz natürliche Gesichtsmerkmale wie eine Hakennase oder ein Grübchen im Kinn?«
»Nein«, sagten beide wie aus einem Mund, was ziemlich komisch wirkte.
»Das sind Zangenspuren«, sagte Deke. »Die sind entstanden, als der Arzt nicht länger warten wollte und ihn aus dem Mutterleib gezogen hat. In den meisten Fällen verschwinden sie wieder, aber eben nicht in allen. Wenn sein Haar nicht schon schütter wäre, würde man sie wohl gar nicht sehen.«
»Und er war nicht hier und hat sich nach Sadie erkundigt?«, fragte ich.
»Nein.« Das sagten sie wieder im Chor. Ellen fügte hinzu: »Niemand hat sich nach ihr erkundigt. Außer Ihnen, George. Sie verdammter Narr.« Sie lächelte wie jemand, der eine scheinbar scherzhafte Bemerkung in Wirklichkeit ernst gemeint hatte.
Ich sah auf meine Uhr und sagte: »Ich habe euch lange genug aufgehalten, Leute. Wird Zeit, dass ich wieder zurückfahre.«
»Hast du Lust, beim Footballfeld vorbeizuschauen, bevor du fährst?«, fragte Deke. »Coach Borman wollte, dass ich dich darum bitte. Er lässt die Jungs natürlich schon wieder trainieren.«
»Wenigstens nur abends, wenn es kühler ist«, sagte Ellie und stand auf. »Dafür muss man schon dankbar sein. Weißt du noch, wie der kleine Hastings vor drei Jahren mit einem Hitzschlag umgekippt ist, Deke? Und wie alle dachten, es wäre ein Herzanfall?«
»Ich weiß nicht, was er von mir wollen könnte«, sagte ich. »Schließlich habe ich einen seiner kostbaren Verteidiger auf die dunkle Seite des Universums gelockt.« Ich senkte die Stimme und flüsterte heiser: »Darstellende Künste!«
Deke lächelte. »Das schon, aber du hast einen anderen Spieler davor bewahrt, zwangsweise ein Jahr auszusetzen. Zumindest glaubt Borman das. Weil Jim LaDue es ihm erzählt hat, mein Sohn.«
Zuerst hatte ich keine Ahnung, wovon er redete. Dann fiel mir der Sadie Hawkins Dance ein, und ich grinste. »Ich habe die Jungs nur mit einer Flasche Fusel erwischt. Ich habe sie ihnen abgenommen und über den Zaun geworfen.«
Deke lächelte nicht mehr. »Einer der drei war Vince Knowles. Weißt du, dass er betrunken war, als er sich mit seinem Pick-up überschlagen hat?«
»Nein.« Aber das überraschte mich ganz und gar nicht. Autos und Alkohol waren ein beliebter und manchmal tödlicher Highschool-Cocktail.
»Yessir. Dieser Unfall und die Strafpredigt, die du den dreien gehalten hast, haben LaDue dazu gebracht, dem Alkohol abzuschwören.«
»Was genau haben Sie ihnen denn damals gesagt?«, fragte Ellie. Sie fummelte ihre Geldbörse aus der Handtasche, aber ich war zu sehr in Erinnerungen an jene Nacht gefangen, um mit ihr wegen der Rechnung zu streiten. Versaut euch eure Zukunft nicht – das hatte ich gesagt. Und Jim LaDue, der Junge mit dem lässigen Die-Welt-gehört-mir-Grinsen, hatte meine Warnung tatsächlich beherzigt. Wir wussten nie, wessen Leben wir beeinflussten – oder wann oder wie. Jedenfalls nicht, bevor die Zukunft sich die Gegenwart einverleibt hat. Wir wussten es erst, wenn es zu spät war.
»Das weiß ich nicht mehr«, sagte ich.
Ellie trottete davon, um für uns alle zu bezahlen.
»Sag Miz Dockerty, sie soll Ausschau nach dem Mann auf diesem Foto halten, Deke«, sagte ich. »Du natürlich auch. Vielleicht kreuzt er gar nicht auf. Ich fange schon an zu glauben, dass ich mich in dieser Beziehung vielleicht geirrt habe, aber er könnte aufkreuzen. Und er ist nicht ganz richtig im
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