Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
vierten Satz meiner Rede wurde ich durch einen kollektiven Laut des Erstaunens unterbrochen. Dann folgte Applaus – erst zögerlich, dann zunehmend zu einem Sturm anschwellend. Das Publikum erhob sich von den Sitzen. Ich hatte keine Ahnung, weshalb die Leute applaudierten, bis ich eine Hand spürte, die meinen rechten Arm knapp über dem Ellbogen leicht umfasste. Ich drehte den Kopf zur Seite und sah Sadie in ihrem roten Kleid neben mir stehen. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt und mit einem Strassclip befestigt. Ihr Gesicht – beide Seiten – war komplett sichtbar. Ich war bass erstaunt, als ich entdeckte, dass die verbliebenen Schäden – die ich hier zum ersten Mal deutlich sehen konnte – nicht so schrecklich waren, wie ich befürchtet hatte. Darin mochte irgendeine universelle Botschaft liegen, aber ich war zu erstaunt, um dahinterzukommen. Klar, die tief eingesunkene Wange mit dem nur langsam verblassenden roten Kreuzstichmuster war nicht schön anzusehen. Das galt auch für das schlaffe Fleisch und ihr übernatürlich großes linkes Auge, das nicht mehr ganz synchron mit dem rechten blinzelte.
    Aber sie lächelte ihr charmantes, einseitiges Lächeln, und das machte sie in meinen Augen zu Helena von Troja. Ich umarmte sie, und sie erwiderte meine Umarmung lachend und weinend. Unter dem Kleid vibrierte sie am ganzen Leib wie ein unter Hochspannung stehendes Kabel. Als wir uns wieder dem Publikum zuwandten, waren alle aufgestanden und jubelten uns zu, außer Miller und Caltrop. Die beiden sahen sich um, stellten fest, dass sie als Einzige noch auf ihrem Hintern saßen, und folgten widerstrebend dem Beispiel der anderen.
    »Danke«, sagte Sadie, als wieder Ruhe im Saal herrschte. »Ich danke euch allen aus tiefstem Herzen. Mein besonderer Dank gilt Ellen Dockerty, die mir erklärt hat, wenn ich nicht herkomme und euch allen in die Augen sehe, würde ich das für den Rest meines Lebens bereuen. Und am meisten danke ich …«
    Ein kaum wahrnehmbares Zögern. Das Publikum nahm es bestimmt nicht einmal wahr, sodass ich als Einziger im Saal wusste, wie dicht Sadie davor gewesen war, fünfhundert Leuten meinen richtigen Namen zu verraten.
    »… George Amberson. Ich liebe dich, George.«
    Was natürlich Beifallsstürme auslöste. In finsteren Zeiten, wenn selbst die Weisen unsicher waren, bewirkten Liebesbezeugungen das immer.
    7
    Ellen brachte Sadie – die sichtlich erschöpft war – gegen halb elf nach Hause. Um Mitternacht machten Mike und ich das Licht in der Grange Hall aus und traten ins Freie. »Kommen Sie noch zu unserer Party, Mr. A.? Al hat gesagt, dass er bis zwei Uhr geöffnet haben will, und er hat ein paar Fässchen auf Lager. Er hat keine Lizenz dafür, aber ich glaube nicht, dass er deswegen verhaftet wird.«
    »Nicht für mich«, sagte ich. »Ich bin erschossen. Wir sehen uns morgen, Mike.«
    Bevor ich zu Sadie fuhr, schaute ich noch bei Deke vorbei. Er saß im Schlafanzug auf der Veranda vor seinem Haus und rauchte eine letzte Pfeife.
    »Ziemlich besonderer Abend«, sagte er.
    »Ja.«
    »Deine junge Freundin hat Mut bewiesen. Tonnenweise.«
    »Das hat sie.«
    »Behandelst du sie auch anständig, mein Sohn?«
    »Ich werd’s versuchen.«
    Er nickte. »Das hat sie nach diesem anderen verdient. Und du machst deine Sache nicht schlecht.« Er sah zu meinem Chevy hinüber. »Heute Nacht könntest du vermutlich mit deinem Auto fahren und es vor ihrem Haus parken. Ich glaube nicht, dass nach heute Abend deswegen noch jemand mit der Wimper zucken würde.«
    Wahrscheinlich hatte er recht, aber ich beschloss, lieber vorsichtig zu sein, und ging wie in so vielen anderen Nächten zu Fuß. Diese Zeit brauchte ich, damit meine Gefühle zur Ruhe kommen konnten. Ich sah immer wieder Sadie im Rampenlicht. Ihr rotes Kleid. Die elegante Kurve ihres Nackens. Die glatte Wange … und die zerfetzte.
    Als ich das Haus in der Bee Tree Lane betrat, war das Bettsofa im Wohnzimmer noch zugeklappt. Ich stand da und betrachtete es leicht verwirrt, weil ich nicht wusste, wie ich das deuten sollte. Dann rief Sadie meinen Namen – meinen richtigen Namen – aus dem Schlafzimmer. Ganz leise.
    Die Nachttischlampe warf sanftes Licht auf ihre bloßen Schultern und eine Gesichtshälfte. Ihre Augen leuchteten ernst. »Ich glaube, dass du hierher gehörst«, sagte sie. »Ich möchte dich hier haben. Willst du das auch?«
    Ich zog mich aus und kroch zu ihr ins Bett. Ihre Hand bewegte sich unter der Decke, fand mich, liebkoste mich.

Weitere Kostenlose Bücher