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Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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blieb ich, obwohl das nicht leicht war. Und jedes Mal, wenn ich daran dachte, mir das alles noch einmal anzutun, nämlich in Dallas, drohte mein Verstand zu blockieren. Wenigstens würde Dallas nicht wie Derry sein, sagte ich mir. Weil kein Ort der Welt wie Derry sein konnte.
    Also, wie schildere ich es am besten?
    In meinem Leben als Lehrer hatte ich nachdrücklich die Idee der Einfachheit propagiert. Bei Sachbüchern wie bei Romanen gab es nur eine Frage und eine Antwort. Was ist geschehen?, fragt der Leser. Dies ist geschehen, antwortet der Autor. Dies … und dies … und auch dies. Alles einfach ausdrücken. Das war der einzig sichere Weg zum Erfolg.
    Also will ich es versuchen, obwohl man dabei nie vergessen darf, dass in Derry die Realität nur eine dünne Eisschicht auf einem tiefen See mit dunklem Wasser war. Aber trotzdem:
    Was ist geschehen?
    Dies ist geschehen. Und dies. Und auch dies.
    2
    Am Freitag, meinem zweiten kompletten Tag in Derry, ging ich zum Center Street Market hinunter. Damit wartete ich bis fünf Uhr nachmittags, weil ich glaubte, dass um diese Zeit dort Hochbetrieb herrschen würde – schließlich war der Freitag Zahltag, und das bedeutete für viele Leute (damit meine ich Ehefrauen, denn 1958 galt noch die strikte Regel: Männer kaufen keine Lebensmittel ein), es war Zeit, einkaufen zu gehen. Je mehr Einkäufer dort waren, umso besser konnte ich in der Menge untertauchen. Um das noch zu befördern, ging ich zu W. T. Grant’s und ergänzte meine Garderobe um einige Chinos und blaue Arbeitshemden. Weil ich mich an Keine Hosenträger und seine Kumpel vor dem Sleepy Silver Dollar erinnerte, kaufte ich mir auch Arbeitsstiefel von Wolverine. Auf dem Weg zum Supermarkt trat ich immer wieder absichtlich gegen den Randstein, bis die Zehenkappen abgeschürft waren.
    Der Laden war so überfüllt, wie ich gehofft hatte: Vor allen drei Kassen warteten Schlangen, und die Gänge waren voller Frauen, die Einkaufswagen vor sich herschoben. Die wenigen Männer, die ich sah, hatten nur Einkaufskörbe, also nahm ich mir auch einen. In meinen legte ich eine Tüte Äpfel (spottbillig) und ein Netz Orangen (fast so teuer wie Orangen im Jahr 2011). Unter meinen Schuhsohlen quietschte der geölte Holzboden.
    Was genau machte Mr. Dunning im Center Street Market? Das hatte Bevvie-on-the-levee nicht gesagt. Der Filialleiter war er nicht; ein Blick in den Glaskasten gleich hinter der Lebensmittelabteilung zeigte mir einen weißhaarigen Gentleman, der vielleicht Ellen Dunnings Großvater, aber bestimmt nicht ihr Vater hätte sein können. Und auf dem Namensschild auf seinem Schreibtisch stand MR. CURRIE .
    Als ich an den Milchprodukten vorbei (wo mich ein Schild mit der Aufschrift HABEN SIE SCHON »JOGHURT« PROBIERT? WENN NICHT, WERDEN SIE BEGEISTERT SEIN! amüsierte) durch den Markt nach hinten ging, hörte ich von irgendwo Lachen. Weibliches Lachen von der sofort identifizierbaren Oh-Sie-Frechdachs-Art. Ich bog auf den letzten Gang ab und sah eine kleine Schar von Frauen, die ganz ähnlich gekleidet waren wie die Frauen in der Kennebec Fruit, vor der Fleischtheke versammelt. FLEISCH & WURST stand auf einem handgeschnitzten Holzschild, das an dekorativ verchromten Ketten über der Theke hing. NACH HAUSMACHERART TRANCHIERT. Und in der untersten Zeile: FRANK DUNNING, CHEF-METZ GER.
    Manchmal produzierte das Leben Zufälle, die kein Romanschriftsteller zu kopieren wagen würde.
    Es war Frank Dunning, der die Damen zum Lachen brachte. Die Ähnlichkeit mit dem Hausmeister, der seinen Englischkurs für Erwachsene bei mir gemacht hatte, war groß genug, um unheimlich zu sein. Er hätte Harry sein können, nur hatte die Version hier pechschwarze statt graue Haare, und anstelle des harmlosen, stets leicht verwirrten Lächelns prangte in seinem Gesicht ein ordinäres, angeberhaftes Grinsen. Kein Wunder, dass die Frauen alle ganz aufgeregt waren. Selbst Bevvie-on-the-levee hielt viel von ihm – und warum auch nicht? Sie war vielleicht erst zwölf oder dreizehn, aber sie war ein weibliches Wesen, und Frank Dunning war ein Charmeur. Das wusste er selbst am besten. Es musste Gründe dafür geben, dass die Blüte der hiesigen Weiblichkeit die Lohnschecks ihrer Ehemänner lieber im Center Street Market als in dem etwas preiswerteren A&P ausgab, und einer davon stand hier. Mr. Dunning war ein gut aussehender Mann. Mr. Dunning trug eine blütenweiße Fleischerjacke (mit leichten Blutflecken an den Manschetten, aber schließlich

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