Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Anschlag - King, S: Anschlag

Der Anschlag - King, S: Anschlag

Titel: Der Anschlag - King, S: Anschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
zum Stadtbild gehörte. Da fährt dieser Immobilienmann, der schon fast einen Monat hier ist. Falls er weiß, was er tut, gibt’s vielleicht für jemand hier gutes Geld zu verdienen.
    Wenn mich Leute fragten, was ich suchte, kniff ich ein Auge zu und lächelte. Fragte mich jemand, wie lange ich noch bleiben wolle, antwortete ich, das sei schwer abzuschätzen. Ich lernte, mich in der Stadt zurechtzufinden, und eignete mir den Wortschatz des Jahres 1958 an. Ich lernte beispielsweise, dass der Krieg der Zweite Weltkrieg und der Konflikt der Koreakrieg war. Beide waren vorbei, Gott sei Dank. Die Leute machten sich Sorgen wegen Russland und der sogenannten Raketenlücke, aber nicht zu sehr. Die Leute machten sich Sorgen wegen der Jugendkriminalität, aber nicht zu sehr. Im Augenblick herrschte eine Rezession, aber die Leute hatten schon Schlimmeres erlebt. Wenn man mit jemand gefeilscht hatte, war es absolut in Ordnung zu sagen, man habe ihn »runtergejudet« (oder sei »zigeunermäßig« reingelegt worden). Bonbons für einen Cent konnten Tüpfel, Wachslippen oder Niggerbabys sein. Im Süden war Rassendiskriminierung an der Tagesordnung. Nikita Chruschtschow polterte Drohungen. In Washington machte President Eisenhower eintönig leiernd auf gute Laune.
    Ich legte großen Wert darauf, das stillgelegte Eisenwerk Kitchener möglichst bald nach meinem Gespräch mit Chaz Frati zu besichtigen. Die Eisenhütte stand auf überwuchertem Ödland nördlich der Stadt – tatsächlich ein ideales Grundstück für ein Einkaufszentrum, sobald der Mile-A-Minute Highway daran vorbeiführte. Aber am Tag meines Besuchs – den ich zu Fuß absolvierte, weil ich den Wagen stehen lassen hatte, als die Zufahrtsstraße unzumutbar schlecht wurde – hätten dort die Ruinen einer alten Zivilisation stehen können: Seht meine Werke, ihr Mächtigen, und verzweifelt. Ziegelhaufen und rostige Maschinenteile ragten aus dem hohen Gras. Mitten auf dem Gelände lag ein umgestürzter aus Klinkersteinen gemauerter Fabrikschornstein, dessen rußgeschwärzte Innenseite ihn wie einen schwarzen Tunnel erscheinen ließ. Hätte ich den Kopf etwas eingezogen, hätte ich hineingehen können, obwohl ich nicht gerade klein bin.
    In diesen Wochen vor Halloween sah ich viel von Derry – und fühlte auch viel von Derry. Die Einheimischen waren freundlich zu mir, aber – mit einer Ausnahme – niemals kumpelhaft. Diese Ausnahme war Chaz Frati, und im Nachhinein denke ich, dass seine unverlangten Enthüllungen mir seltsam hätten vorkommen sollen, aber ich hatte den Kopf voll anderer Dinge, und Frati kam mir nicht besonders wichtig vor. Ich dachte: Manchmal begegnet man eben einem freundlichen Menschen, das ist alles, und ließ es dabei bewenden. Jedenfalls ahnte ich nicht im Geringsten, dass ein gewisser Bill Turcotte ihn auf mich angesetzt hatte.
    Bill Turcotte alias Keine Hosenträger.
    2
    Bevvie vom Deich hatte gesagt, sie glaube, dass die schlechten Zeiten in Derry vorbei seien, aber je mehr ich von Derry sah (und vor allem fühlte), desto mehr gelangte ich zu der Einschätzung, dass Derry nicht wie andere Kleinstädte war. Mit Derry stimmte irgendwas nicht. Anfangs versuchte ich mir einzureden, dass es an mir liege, nicht an Derry. Ich war ein aus dem Lot geratener Mensch, ein Zeitbeduine, da musste mir zwangsläufig jeder Ort leicht fremdartig und irgendwie schief vorkommen – wie die fast albtraumhaften Städte in den seltsamen Romanen von Paul Bowles. Das war anfangs zwar ganz reizvoll, aber als die Tage vergingen und ich meine Umgebung zusehends intensiver erforschte, nutzte dieser Reiz sich schnell ab. Ich begann sogar an Beverly Marshs Aussage zu zweifeln, dass die schlechten Zeiten überhaupt vorüber seien, und stellte mir vor (wenn ich nachts keinen Schlaf fand, was oft genug vorkam), dass sie selbst Zweifel an dieser Behauptung hegte. Hatte ich nicht angedeutete Zweifel in ihrem Blick gesehen? War das nicht der Blick eines Menschen gewesen, der etwas nicht recht glaubte, aber gern glauben mochte? Es vielleicht sogar glauben musste?
    Etwas Falsches, etwas Böses.
    Bestimmte leer stehende Häuser, die einen anzustarren schienen wie die Gesichter von Menschen, die an einer fürchterlichen Geisteskrankheit litten. Eine leere Scheune am Stadtrand, deren Heubodentür an rostigen Angeln langsam auf und zu schwang, sodass sie die Dunkelheit erst enthüllte, dann verbarg, dann wieder enthüllte. Ein zersplitterter Zaun in der Kossuth Street, nur eine Straße

Weitere Kostenlose Bücher