Der Apotheker: Roman (German Edition)
Augenblick, sah ich mich selbst in ihr. Damals war ich mir gewiss, dass es das Gefühl des Verlustes und die Sehnsucht war, was ihr Gesicht so auszehrte und bald auch ihr Herz ergreifen und ihm alles Weiche rauben würde. Das Gefühl, dass ihr etwas fehlte, dass ein Teil ihrer selbst abgeschnitten worden war, würde sie nie mehr verlassen.
Ich zog ihre Decke zurück und legte ihr das Wesen an die Brust. Es schnüffelte an ihrer Haut, suchte blindlings und fand schließlich die Brustwarze, die es gierig in den Mund saugte. Mary zuckte zusammen und schloss die Augen. Ihr Gesicht war wie versteinert, und sie drehte den Kopf teilnahmslos zur Seite. Aber sie schob das Kind nicht von sich fort. Vielleicht kam es ihr gar nicht in den Sinn, dass das überhaupt möglich wäre. Mehrmals am Tag legte ich ihr das Wesen an die Brust. Als es mir zu viel wurde, es ständig zu halten, schlang ich aus einem Stofffetzen eine Art Tragetuch, in dem man es wiegen konnte. Mary warf nie auch nur einen Blick darauf.
Vier Tage lang hielten wir uns in dem Zimmer versteckt. Wenn es dunkel wurde, huschte ich hinaus, um etwas zu essen zu besorgen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, wie wenig Geld wir noch hatten, doch das fiel mir leichter, als ich geglaubt hatte. Das pudrige Zwielicht, in dem ich meine nächtlichen Ausflüge unternahm, wusch die Farben aus den Dingen und zeichnete ihre scharfen Konturen weicher. Selbst bei Tag erschien mir die Welt jenseits des Fensters unwirklich, der gedämpft hereindringende Lärm nicht lauter als das Knurren unserer Mägen. An diesem Ort verborgen, war uns, als könnten wir die Zeit stillstehen lassen. Und wenn die Zeit stillstand, konnte uns auch nichts passieren.
Das Wesen nährte sich gut und schlief die meiste Zeit, genauso wie Mary. Wenn die beiden dösten, ging ich in dem dunklen Zimmer auf und ab, voller Bewegungsdrang. Ich konnte die Kreatur kaum ansehen, aber gleichzeitig konnte ich kaum den Blick von ihr abwenden, weil ich bei sämtlichen ihrer Bewegungen nach Anzeichen suchte, die ihr äffisches Wesen verraten würden. Im Schlaf machte es mit der Zunge winzige murmelnde Geräusche, die mir eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Als es zum ersten Mal seine kleine Faust um eine Strähne von Marys Haar schloss und daran zog, wurde ich von einem Abscheu überwältigt, dass mir schwindelig wurde. Aber ich konnte es nicht töten. Mit jedem Tag, der verstrich, wuchs meine Gewissheit, dass ich es nicht töten konnte.
Einmal, als ich die beiden im Schlaf betrachtete, klopfte es an der Tür. Im selben Moment wusste ich, dass ich darauf nur gewartet hatte. Ich hatte gewusst, sie würden uns finden, früher oder später. Doch ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was ich jetzt tun sollte. Aufgeregt und mit pochendem Herzen griff ich nach dem Säugling und sah mich nach einem Winkel um, wo ich ihn verstecken konnte.
»Mary, Eliza, seid ihr hier?«
Es war nicht Edgar, sondern Petey.
Mir war ganz schwindelig, als ich meine Gedanken zu ordnen versuchte. Dann hob ich die Platte von der Teekiste, legte vorsichtig das Kind hinein und deckte es mit meinem großen grauen Schultertuch zu. Ich konnte nur hoffen, dass ich Petey loswurde, bevor es aufwachte und zu schreien begann. Die Platte legte ich ein wenig versetzt auf die Kiste, damit das Kleine Luft zum Atmen bekam.
»Na so was, guten Tag«, sagte ich und öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Mit Besuch hatten wir nicht gerechnet.«
Jabba saß dem Gaukler auf der Schulter und kraulte ihm das Haar. Schaudernd wandte ich den Blick ab.
»Die Waschfrau sagte, dass ihr nicht zur Arbeit gekommen seid. Also habe ich vermutet … das Baby. Ist es da?«
»Ja, es ist gekommen«, sagte ich rasch. »Aber es … es ist gestorben. Es war zu früh dran, glaube ich.«
»Ich verstehe«, meinte Petey ernst. Er sah mich mit seinen freundlichen Augen an.
Ich reckte das Kinn vor. »Mary geht es einigermaßen gut. Aber sie schläft jetzt. Sie hat leichtes Fieber.«
»Vielleicht kann ich ihr, wenn es ihr wieder besser geht, Jabba bringen. Sie mag ihn so sehr, vielleicht kann er sie ein wenig aufheitern.«
Ich zuckte betreten die Achseln, als das Äffchen schnatternd auf der Schulter des Gauklers herumhüpfte. Dann, ganz plötzlich und ohne Vorwarnung, sprang es auf den Boden, schlüpfte durch den Türspalt und war im Zimmer verschwunden. Ich fuhr vor Schreck zusammen.
»Komm her, komm sofort her, du kleines …«
»Er hat wenig Respekt vor dem, was Leute
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