Der Arzt von Stalingrad
hatte den Tod noch beschleunigt, indem er ihm eine Injektion mit Morphium gab, die das geschwächte Herz nicht mehr ertrug. So starb der junge Mensch nicht an Krebs, sondern an einem Herzkollaps, ausgelöst durch Morphiumspasmen.
Es war ein Fehler von Professor Pawlowitsch, den er in dem Augenblick einsah, als Sascha starb. Er raufte sich die Haare, er schlug mit der Faust auf das Bett, in dem der junge Mann spitz und gelb lag. Da er allein im Zimmer war, vernichtete er die Ampulle, warf die Spritze weg, deckte den Toten auf und knetete den Leib, in der Hoffnung, durch dieses Massieren die innere Blutung und den Mageninhalt der Bauchhöhle so zu verteilen, daß bei der Sektion ein Chaos im Leib von Sascha den plötzlichen Tod erklärte. Man konnte dann eine Untersuchung des Herzens ablehnen, indem man sie als sinnlos und zeitvergeudend hinstellte.
Der Oberarzt trat ins Zimmer. Ein Blick auf den jungen Kislew genügte ihm. »Exitus?« fragte er.
»Nein, eine Geburt!« zischte Pawlowitsch giftig. »Er darf noch nicht tot sein. Verbreiten Sie in der Klinik, ich habe bei dem Kranken einen labilen Zustand erreicht, der vielleicht eine neue Operation möglich macht!«
»Aber das geht doch nicht.« Der Oberarzt stotterte. »Wir können doch jetzt den deutschen Arzt nicht mehr …«
»Hinaus!« schrie der Professor. Sein asiatisches Gesicht war verzerrt. Er sah jetzt wirklich aus wie ein alter, wütender Affe. Seine Haut war braunrot, in dem breiten Gesicht standen schräg, eng wie Schlitze, die Augen.
Erschüttert wandte sich der Oberarzt ab und verließ das Zimmer. Draußen vor der Tür, auf dem Gang, lehnte er sich gegen die weiße Wand und schloß die Augen. »Heilige Mutter von Kasan«, sagte er leise. »Verzeih mir … ich muß es tun …«
Schwankend ging er zur Arztmesse und erzählte stockend, daß der Professor vielleicht den jungen Kislew retten könne.
Als Dr. Böhler in Begleitung von Martha Kreutz im Krankenhaus erschien, war Pawlowitsch ruhig und freundlich wie immer. Nur Martha Kreutz sah er mit Mißfallen an. Er hatte sie nicht angefordert. Der Oberarzt verstand seinen Blick und führte Martha Kreutz hinaus.
»Kommen Sie, Schwester«, sagte er herzlich, obwohl es ihn im Halse würgte. »Davon verstehen wir nichts, das ist allein das Recht der großen Wissenschaft. Während Dr. Böhler den Kranken untersucht, trinken wir einen kleinen Wodka.«
Ahnungslos, erfreut und überrascht über die unerwartete kollegiale Herzlichkeit, folgte Martha Kreutz dem russischen Oberarzt.
»Wie geht es dem Kranken?« fragte Dr. Böhler den Professor. Er gab seinen Lammpelz einem Heilgehilfen und nahm aus der Hand der Stationsschwester einen weißen Mantel entgegen. Er zog ihn über seine alte Plenniuniform und knöpfte ihn zu. »Starke Spasmen?«
»Ab und zu.« Pawlowitsch sah an die Decke. »Sehr ernst.«
»Wann wurde er eingeliefert?«
»Heute morgen.«
»Warum nicht früher?« Dr. Böhler verhielt den Schritt. Fast tadelnd sah er den Professor an. »Sie hatten doch Kenntnis von dem Zustand des Patienten. Haben Sie ihn denn nicht nach der Entlassung aus der Klinik beobachten lassen? Hielt er vollkommen Diät?«
Taij Pawlowitsch sah den Deutschen von der Seite. Warte, du deutsches Schwein, dachte er wütend, gleich bist du klein wie ein Wurm, den ich mit Ekel zertreten werde. Ein Stalinpreisträger für Chirurgie läßt sich nicht von einem deutschen Plenni zeigen, wie man einen Magenkrebs operiert! Und wenn, dann geht es schief. Dann muß es schiefgehen! Wir sind die Herren der Welt! Wir dulden keinen Höheren über uns! Nicht einmal Gott. Auch Gott schaffen wir ab, den alten Vater mit dem weißen Bart. Er ist klapprig geworden, dieser Gott. Er hat eine Arteriosklerose und wird kindisch. Wir sind die Herren der Erde! Wir Russen! Wir Asiaten!
Taij Pawlowitsch lächelte. »Wir haben alles getan – vielleicht war Ihre Resektion zu grob.«
Dr. Böhlers Kopf flog herum. Plötzlich, wie ein Blitz, schlug es bei ihm ein. Er sah, wohin man ihn gelockt hatte, er erkannte die ungeheure Gefahr, in die er gestolpert war. Aber dieses plötzliche Wissen erschreckte ihn nicht – es machte ihn ebenso schnell kalt und berechnend, so kalt, wie Pawlowitsch es war, der große, starke, unheimliche Gegner mit dem Gesicht eines mumifizierten Affen.
»Wo ist der Patient?«
»In Zimmer 9. Sie sehen ihn gleich. Ich lasse Sie sogar allein mit ihm.« Pawlowitsch lächelte hinterhältig. »Sie haben alle ärztlichen und
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