Der Arzt von Stalingrad
Häusern am Sandstrand der Krim. Und Janina hatte stumm zugehört und geweint. Er hatte sie verlassen in der Hoffnung, in ihr den Mut zum Leben erhalten zu haben.
Und nun dies!
»Wenn Dr. Böhler doch hier wäre …«, sagte Worotilow leise.
»Er kann auch nicht helfen!« Die Kasalinsskaja fühlte den Puls. »Kaum noch tastbar. Sie schläft ein … ganz sanft … so sanft, wie ihr Leben war …«
Worotilow drehte sich zum Fenster um. Seine Schultern zuckten. Dr. Schultheiß setzte sich an das Bett und nahm die weißen, schlaffen Hände Janinas. Er streichelte sie … die Finger entlang, über die kleinen, blauen Adern, die durch die fahle Haut schimmerten, zum Gelenk hin und wieder zurück. Er war schuldig an diesem Sterben. Er wußte, daß der Tod Janinas immer auf seiner Seele liegen würde.
Dr. Kresin saß auf einem Stuhl am Fußende des Bettes und beobachtete das Gesicht des Mädchens. Die Kasalinsskaja stand am Kopfende und ging in Gedanken alle Medikamente durch, die sie gegen Schlafmittelvergiftung kannte. Es war nur eine kurze Liste, denn der Tod kommt in Rußland in anderer Gestalt als in der von zwanzig kleinen, weißen Pillen. Und man lehrt nur das in Rußland, was man braucht. Schlafmittel sind ein Privileg der dekadenten westlichen Welt, aber nicht des blutfrischen, erst erwachenden Rußland.
Der Puls wurde schwächer. Tiefe Ringe zeigten sich unter den Augen. Der Körper verfiel in rasender Eile. Worotilow stand noch immer mit dem Rücken zum Bett und schluchzte. Dr. Kresins Hand glitt tastend über die Bettdecke.
»Janinaschka«, flüsterte er. »Verlaß uns doch nicht. Mein silbernes Täubchen … warum willst du die Wolga nicht mehr sehen … Bleib doch, bleib doch, Muscha …« Er sah wie ein russischer Bauer aus, grobschlächtig, bärenstark, kindlich im Gemüt und mit Tränen im Bart.
Eine Stunde später starb Janina Salja. Still schlief sie hinüber in eine reinere Welt, das Herz setzte einfach aus, als habe man an einem Schalter gedreht, der das Lebenslicht löscht. Sie zitterte noch einmal mit den Lidern, dann seufzte sie leise … kaum vernehmbar … dann lag sie still und weiß in den Kissen. Ihre Züge verloren die innere Verkrampfung … schön wie nie im Leben war sie im Tod … die verklärte himmlische Schönheit des erlösten Leibes …
Dr. Kresin faltete die Hände und betete leise. Auch die beiden deutschen Schwestern und Dr. Schultheiß beteten. Major Worotilow verließ das Zimmer … man sah ihn über den Platz zur Kommandantur gehen, langsam, schleppend, als trüge er eine Zentnerlast … er hielt den Kopf gesenkt und beachtete nicht die Wachtposten, die ihn grüßten, und Leutnant Markow, der auf ihn zutrat und ihm eine Meldung machte. Er ließ den Erstaunten einfach stehen und ging langsam weiter wie ein Nachtwandler …
Die Kasalinsskaja deckte Janina bis zum Hals zu und schob mit der Hand die ein wenig geöffneten Lider ganz herab. Von einem Blumentopf riß sie einige Blüten ab – es war eine kleine, armselige Primel, die in Sellnows Zimmer gestanden hatte – und steckte die Blüten zwischen die Finger des Mädchens.
Dr. Kresin blickte auf und sah sich wie erwachend im Zimmer um.
»Ich lasse mich versetzen«, sagte er dumpf. »Ich kann hier nicht mehr bleiben. Ich will kein Gefangenenlager mehr sehen! Keinen Plenni, keinen Zaun, keine Soldaten – und keinen deutschen Arzt mehr! Ich gehe nach Süden, an das Schwarze Meer … Ich will auch die Wolga nicht mehr sehen … nie, nie mehr!«
Er erhob sich und zog Dr. Schultheiß mit sich empor.
»Du bist der einzige Mensch gewesen, Jens«, sagte er langsam, während ihm die Tränen aus den Augen rannen und über seine dicken Backen rollten, »den Janina wirklich geliebt hat. Mit dieser Liebe ist sie gestorben … verdammt sollst du sein, wenn du mein Täubchen jemals vergißt …«
»Ich werde sie nie vergessen, Dr. Kresin.« Jens schüttelte müde den Kopf. »Ich habe sie sehr geliebt.«
Dr. Kresin legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wäre ich kein Russe, ginge ich mit dir nach Deutschland. Aber ich bin ein Russe … und ich muß bei Mütterchen leben, denn was würde aus ihr, wenn wir sie alle verließen? Wirst du mir schreiben aus Deutschland?«
»Ja, Dr. Kresin.«
Die Kasalinsskaja räusperte sich. »Sie war eine Bolschewikin«, sagte sie leise. »Aber sie war immer gläubig. Sollen wir nicht den Pfarrer holen, Genossen, damit er sie segnet?«
Und Dr. Kresin nickte.
Professor Taij Pawlowitsch stand
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