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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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chirurgischen Freiheiten …«
    Dr. Böhler blieb stehen, obwohl Professor Pawlowitsch sich zum Gehen wandte. Ein wenig verblüfft drehte sich der Professor um. »Kommen Sie!«
    »Ich möchte erst den genauen Krankheitsbericht sehen, bevor ich dem Patienten gegenübertrete. Sie haben doch genaue klinische Unterlagen, Herr Professor …«
    Pawlowitsch nickte. »Selbstverständlich. Der Kranke befand sich ja unter ständiger Kontrolle. Die Papiere sind im Zimmer meines Oberarztes.« Er lächelte höflich. »Ich schicke gleich eine Schwester zu ihm. Bis dahin können Sie den Patienten schon untersucht haben …«
    Er blieb vor einer weißlackierten Tür stehen. Über dem Rahmen leuchtete auf Glas gemalt eine große Neun. Es war das letzte Zimmer des Ganges. Dr. Böhler bemerkte es und biß sich auf die Lippen. Pawlowitsch legte die abgezehrte Hand auf die Klinke. Sie zitterte nicht – er drückte die Klinke nieder.
    »Er wird schlafen«, sagte er leise. Seine Heuchelei erschütterte Dr. Böhler. Auch er ist ein Arzt, dachte er erschrocken. Auch er will Helfer sein, Freund der Menschen. Er sah auf den Spalt der Tür und wußte, was ihn in diesem Raum erwartete.
    Professor Pawlowitsch hatte es plötzlich eilig. Er zog sich von Zimmer 9 zurück und nickte ein paarmal mit dem greisen Kopf.
    »Ich gehe selbst die Krankengeschichte holen, Herr Kollege«, sagte er höflich. »Bis dahin haben Sie wahrscheinlich eine sichere Diagnose gestellt.«
    Auf seinen dünnen, kurzen Beinen rannte er den Gang entlang und ließ Dr. Böhler an der geöffneten Tür zurück, dann überwand er die Sekunde der Schwachheit und trat mit entschlossenen Schritten in den langen, schmalen Raum.
    In dieser Stunde geschah es, daß Dr. Kresin laut rufend durch das Lazarett lief und die Kasalinsskaja aus dem Bett jagte, wo sie ihren Mittagsschlaf hielt. Auch Major Worotilow rannte über den verschneiten Appellplatz und stürmte in die Krankenbaracke.
    Im Zimmer Janina Saljas standen die beiden Schwestern Erna Bordner und Ingeborg Waiden am Bett des Mädchens und bemühten sich um sie mit einem Sauerstoffapparat. Dr. Schultheiß machte alles bereit für eine Magenspülung, während Dr. Kresin keuchend zurückkam und eine Spritze mit Traubenzucker und Strophanthin aufzog.
    »Wie ist das nur möglich?!« schrie er immer wieder. »Janina … Täubchen … was machst du für Dummheiten …«
    Er streichelte ihre blassen Wangen und hob die Lider von den eingesunkenen Augen. »Sie ist ja schon tot!« schrie er auf. Dr. Schultheiß fuhr herum und ließ den Magenschlauch fallen. Er stürzte an das Bett und setzte zitternd das Stethoskop an.
    »Das Herz schlägt noch … ganz schwach … Geben Sie sofort die Injektion …«
    Dr. Kresin spritzte intravenös das Strophanthin. Der kleine, schmale Körper Janinas bäumte sich auf … Die Brust begann sich zu heben … Das Herz schlug hörbar gegen die Brustwand. Major Worotilow saß starr und gelbweiß in der Ecke am Fenster und stierte in das blasse Gesicht des Mädchens.
    »Was ist denn?« fragte er immer wieder. »Was ist denn? Was hat sie denn getan?«
    »Vergiftet!« Dr. Kresin ließ sich auf die Bettkante fallen. »Zwanzig Schlaftabletten! Das hält sie nicht aus! Und sie war sowieso so schwach!« Er schlug Dr. Schultheiß den Magenschlauch aus der Hand, als er sich über Janina beugen wollte. »Quälen Sie doch mein Täubchen nicht noch!« brüllte er. »Gehen Sie weg mit dem dummen Schlauch! Als ob sie damit zu retten wäre …«
    »Auspumpen ist das einzige Mittel!« Dr. Schultheiß warf verzweifelt beide Hände vor das Gesicht. »Wenn man bloß wüßte, wann sie die Tabletten genommen hat!«
    »Schon vor Stunden!« Ingeborg Waiden begann zu schluchzen. »Wenn ich nicht zufällig ins Zimmer gesehen hätte, würde es keiner gemerkt haben. Sie war ja immer so still … so bescheiden …«
    Major Worotilow sprang auf. Er rannte hin und her. Sein mächtiger Körper war nach vorn gebeugt. »Aber warum? Warum?« murmelte er immer wieder.
    Man sah auf den Boden und schwieg. Jeder wußte es … aber keiner wagte es auszusprechen. Kresin hatte den Weinkrampf miterlebt, als Janina erfuhr, daß Dr. Schultheiß auf der Entlassungsliste stand. Er hatte sie eine ganze Nacht lang getröstet und ihr zugesprochen, er hatte ihr das Leben an der Wolga geschildert, das weiterging, auch wenn der deutsche Arzt mit den blonden Haaren nicht mehr bei ihnen war, er hatte von der Steppe erzählt, von den Wäldern und den weißen

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