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Der Arzt von Stalingrad

Der Arzt von Stalingrad

Titel: Der Arzt von Stalingrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Freie. Kalte Schneeluft wehte ihnen entgegen. Schnee trieb über den weiten Platz vor der Klinik. Ein Panjeschlitten zog mit knirschenden Kufen über die vereiste Straße. Vor den Stufen des Eingangs wartete der Sonderwagen Taij Pawlowitschs.
    »Fahren Sie, Kollege«, sagte der Armenier in gebrochenem Deutsch. »Lager ist sicher! Ich werde telefonieren Ihren Major. Nur fahren jetzt, ehe Professor Rache …!«
    Er rannte zurück in die Eingangshalle, nahm den dicken Lammpelz Dr. Böhlers und legte ihn ihm über die Schultern. Der Chauffeur hatte schon die Tür des Wagens geöffnet. Dr. Böhler stieg ein, Martha Kreutz setzte sich neben den Fahrer. Der junge Armenier warf den Schlag zu.
    »Wir alle wissen, der junge Kislew seit sieben Stunden tot!« rief er durch die Scheibe und winkte dem deutschen Arzt zu. »Jetzt fahren gut …«
    Der schwere Wagen heulte auf, drehte auf dem weiten Platz und jagte durch den stiebenden Schnee auf die Chaussee zur Wolga hin. Dr. Böhler sah durch das hintere Fenster zurück. Der junge Armenier blickte dem Wagen nach und stand allein auf der großen Treppe. Jetzt gesellte sich aus der Halle ein anderer weißer Kittel hinzu, eine große Gestalt: der Oberarzt. Auch er blickte dem Wagen nach.
    »Kommen Sie«, sagte er zu dem Assistenten. »Das Schwerste steht uns noch bevor. Der Professor hat sich eingeschlossen. Wir müssen Sergej Kislew endlich die Wahrheit über seinen Sohn sagen.«
    »Wir?« der Armenier wurde fahl.
    »Es muß sein! Wir werden auch das überwinden, und einmal muß er es ja doch erfahren. Er wartet seit zehn Stunden in seiner Tobzelle.« Der Oberarzt faßte den Jungen unter. »Gehen wir, Genosse …«
    Als sie die Zelle aufschlossen, saß Sergej Kislew auf seiner Pritsche und weinte. Was man ihm nicht sagte, hatte er in den Stunden der Einsamkeit begriffen. Willenlos wie ein Kind ließ er sich hinausführen auf den weißen, kahlen Flur, an dessen Ende das schmale Zimmer 9 lag …
    In aller Stille fand die Beerdigung von Janina Salja statt. Keiner aus dem Lager war zugegen. Nicht Dr. Böhler, nicht Dr. Schultheiß, die Tschurilowa oder Dr. Kasalinsskaja. Nicht einmal Major Worotilow konnte die Stärke aufbringen, hinter dem schlichten Holzsarg herzugehen, den der beste Lagertischler aus den Kiefern am Rande der Wolga gezimmert hatte. Vier Rotarmisten trugen ihn, und nur Dr. Kresin stand an der Grube und betete, nachdem er die Träger zu den Wagen zurückgejagt hatte.
    Allein stand der große Mann in dem Schneefeld am Waldrand und blickte sich um. Dort war die Wolga. Groß, breit, für die Ewigkeit fließend. Dort waren die Wälder – dunkel, unübersehbar, verfilzt, urwaldartig sich hinziehend über Hunderte von Kilometern, ein Reich der Wölfe und Bären, die des Nachts durch den Schnee irrten und die Stille mit ihren unheimlichen Lauten erfüllten.
    Hier lag die Grube, lag Janina Salja, die Tochter der Wolga, das Mädchen mit den weiten Augen, in denen die Unendlichkeit Rußlands schimmerte.
    Langsam wandte sich Dr. Kresin um und tappte durch den hohen Schnee zu den Wagen zurück. Er kroch auf seinen Sitz und blickte durch die Scheiben in die andere Richtung, wolgaabwärts, woher sie gekommen waren.
    »Werft es zu!« sagte er laut zu den wartenden Soldaten. »Und macht schnell … es wird Wind geben, und der Schnee staubt über die Steppe … Macht schnell, Brüder …«
    Dann vernahm er das Knirschen der Schaufeln und das dumpfe Poltern der steinhart gefrorenen Erdbrocken in der Grube, und er drückte die Hände flach gegen seine Ohren, um es nicht zu hören. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt. Ihm war, als begrübe man eine Welt, in der er bisher gelebt hatte, und nun stand er einsam da, leer, nackt, ausgestoßen, verdammt weiterzuleben …
    Und das Leben ging weiter.
    Im Lager 5110/47, in Stalingrad, in der Klinik Professor Pawlowitschs, in den Straflagern und bei den Außenkolonnen.
    In Stalingrad versuchte Dr. von Sellnow die ersten Schritte am Arm einer Schwester. Pawlowitsch beobachtete von seinem Zimmerfenster aus, wie er, gestützt und in einen Pelz gehüllt, durch die reine Schneeluft im Garten schwankte. Er war zufrieden, der kleine Asiate … die Gehirnoperation mit dem Meißel war dem deutschen Arzt gelungen … Er hatte eigentlich gehofft, daß Sellnow den Eingriff nicht überstehen würde. Sobald er aber erkennen mußte, daß er gegen alle Erwartungen am Leben blieb, hatte er keine Mittel gescheut, er hatte sie aus Moskau mit der Kurierpost kommen

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