Der Assistent der Sterne
schwieg. Er ahnte natürlich, wie sie an das Gerät gekommen war. De Reuse hatte es wohl in seinem Schlafzimmer versteckt, zusammen mit dem restlichen Equipment für die Überquerung des Langjökull. Seit einer Stunde saß jetzt sie am Steuer. Sie fuhr zu schnell, der Wagen geriet oft ins Schlingern, sie gab übertrieben viel Gegensteuer, obwohl es keine Hindernisse gab, denen man hätte ausweichen müssen. Es war nur wichtig, dass der Wagen sich nicht überschlug. Mit der Zeit gewöhnte Jensen sich an ihren nervösen Fahrstil, die Wärme im Wagen machte ihn duldsam und träge. Er hatte nichts zu tun, außer das Navigationsgerät zu beobachten. Sie hatte ihm diese Aufgabe zugewiesen. Hin und wieder wurde eine Kurskorrektur notwendig, dann sagte er: »Etwas mehr nach links.« Der Benzintank war voll. Sie hatte den Wagen in der Nacht betankt, mit dem Diesel aus dem Schuppen. Jensen hätte das vergessen, er wäre losgefahren, ohne an den leeren Tank zu denken. Er sagte, eines verstehe er nicht: Er habe doch die Wagenschlüssel gehabt. Als sie den Wagen aufgetankt habe, habe sie aber noch nicht wissen können, dass auch er von hier weg wollte. Sie sagte, er solle endlich den Mund halten. Also schwieg er, stellte sich den Tatsachen: Er hatte den Hund geopfert. Aß er aber nicht fast täglich Fleisch, von Schweinen, Rindern, von Hühnern aus Mastzellen? Hätte er ein weniger schlechtes Gewissen gehabt, wenn er den Hund hinterher verspeist hätte, war es das: Fressen als Entschuldigung? Er hatte den Hund für die Frau neben ihm geopfert, sollte doch sie die Last tragen.
Er schaltete das Radio ein und war überrascht, das Klavierstück »Pagodes« von Debussy zu hören. Die Reichweite von Radiowellen war wirklich erstaunlich. Selbst hier, in einer menschenleeren Gegend, in der man, wenn man sich verirrte, leicht hätte verhungern können, wurde man von überwältigend schöner Musik erreicht. Die Likasi aber unterbrach das Stück, indem sie wahllos am Radio herumdrückte, bis atmosphärisches Rauschen zu hören war.
»Das hält mich wach«, sagte sie.
Sie drehte die Lautstärke hoch.
»Ein Prozent«, sagte Jensen.
»Was?«
»Ein Prozent.« Sie verstand nicht, was er meinte, dabei war es doch eine physikalische Binsenweisheit: Ein Prozent des atmosphärischen Rauschens wurde von einer Strahlung verursacht, die entstanden war, als das Universum vor vierzehn Milliarden Jahren scheinbar aus dem Nichts herauszu wachsen begonnen hatte. Das Radio sendete gewissermaßen den Geburtsschrei des Universums, im Fernsehen konnte man ihn sich sogar ansehen, wenn man den Stecker aus der Antennenbuchse zog. Das Programm war allerdings nicht besonders beliebt. Die meisten Leute interessierten sich nicht dafür, dass das Universum seit seiner Geburt kontinuierlich wuchs. Merkwürdigerweise glaubten aber selbst die Uninteressierten zu wissen, dass das Universum schon sehr alt war, was nicht stimmte. Die Lebensdauer des Universums ließ sich annähernd berechnen, und es stellte sich heraus, dass die vierzehn Milliarden Jahre, die es nun schon existierte, den ersten hundert Herzschlägen eines neugeborenen Kindes entsprachen. Das Universum war ein Baby, es hatte noch nicht einmal die Augen aufgeschlagen. Und dennoch war in ihm bereits so filigrane, verträumte Musik wie die eines Debussy entstanden. Jensen erlaubte sich diesen kurzen Moment der Schwärmerei. In Wirklichkeit kümmerte sich das Universum in keiner Weise darum, was in ihm geschah. Es war ein Neugeborenes, es wuchs, und was man auf der Erde Leben nannte, war womöglich nichts anderes als Mykonium, der erste, pechschwarze Stuhlgang der Neugeborenen. Über dem Mykonium ging die Sonne auf, der Wind wehte einem Fliederduft in die Nase, auf Parkbänken küssten sich Pärchen, und Professoren erschossen Hunde.
Was hätte er denn tun sollen? Ilunga Likasi den Arm auf den Rücken drehen und sie De Reuse ausliefern? Aber darum ging es nicht. De Reuse hatte den Hund erschossen, und du warst erleichtert darüber, dachte Jensen.
Er blickte auf das Display des Navigationsgeräts, die Richtung stimmte.
»Wie lange fahren wir schon?«, fragte er.
»Vier Stunden.«
»Wie spät ist es?«
Sie drehte das Radio noch lauter, das Knistern und Knacken, in dem sich der Geburtsschrei versteckte, erfüllte den ganzen Wagen.
Jensen konnte es sich ausrechnen: Seit vier Stunden waren sie unterwegs, dann musste es jetzt ungefähr sieben Uhr morgens sein. Die Hinfahrt hatte vielleicht sechs Stunden
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