Der Atem der Angst (German Edition)
Bruder?« Louis schien sich alle Mühe zu geben, eilig zu wirken.
» Der von Isabel.«
» Was?« Louis kam wieder näher heran. Hinter ihm toste der Wasserfall. » Woher weißt du von ihr?«
» Ich will nur wissen, ob du es bist.« Plötzlich zitterte Mayas Stimme. Wenn dieser Louis der Bruder des ermordeten Mädchens war, dann hatten ihrer beider Geschichten denselben Anfang. Dann war er so etwas wie ihr Freund. Womöglich ihr einziger Freund. Ihr Verbündeter, der vielleicht wusste, was unten in St. Golden im Gange war. Ob man sie noch suchte.
In Mayas Augen brannten Tränen der Erleichterung. Sie schluckte. Nur jetzt nicht weinen. Sie gab ihr Bestes, ihre Stimme hart und unbeteiligt klingen zu lassen, obwohl ihr Herz Purzelbäume vor Freude und Erleichterung schlug. » Bist du es nun?«
» Vielleicht. Warum willst du das wissen?« Louis verschränkte die Arme vor der Brust. Es tropfte von den Kiefernzweigen auf seinen Kopf. In sein Gesicht. Es war kalt. Es war feucht. Er wollte weiter!
Maya spürte, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Bestimmt sah sie gerade aus wie ein kleines Kind. Verletzlich. Sanft. Beinahe lieblich. Doch ihre Faust umklammerte fest die Fackel.
Louis trat unruhig von einem Bein aufs andere. » Hallo! Warum du das wissen willst?«
» Weil ich«, zu ihrem Ärger bekam Maya nicht mehr als ein Wispern hin, » weil ich das Mädchen bin, das damals mit seinem Vater verschwunden ist, nachdem sie deine Schwester geholt hatten.«
Louis starrte Maya fassungslos an. » Ihr seid hier rauf in die Wälder geflohen?«
» Ja.«
» Warum?«
» Weil mein Vater Angst hatte, dass mir das Gleiche wie deiner Schwester passieren könnte.«
Es war Louis anzusehen, dass er endlich weiterwollte, gleichzeitig drängte es ihn zu erfahren, was Maya wusste. » Wieso hätte dir das Gleiche passieren sollen?«
» Weil mein Vater davon ausging, dass es sich bei Isabels Entführung um die Fortsetzung einer alten Geschichte handelte, die nicht nur etwas mit deiner Familie, sondern auch mit meiner zu tun hatte.«
» Was für eine alte Geschichte?« Louis rieb sich nervös mit der Hand über die Stirn.
» Keine Ahnung.« Maya zuckte mit den Schultern. » Mein Vater wollte es mir nicht sagen. Er meinte, es sei besser so. Es hatte wohl etwas mit der Clique zu tun, zu der er während seiner Schulzeit gehört hatte. Genau wie deine Eltern. Mehr weiß ich auch nicht.«
Louis schüttelte den Kopf, drehte sich um und lief weiter. Maya lief hinterher. Louis wurde schneller. Maya auch. Die leichten Farnblätter flogen um ihre Beine. Die Luft wurde immer kühler. Es roch nach modriger Erde. Nach glitschigen Steinen. Über ihnen hatten sich die milchigen Wolken zurückgezogen und legten den Vollmond frei, der den Wald in ein seltsam weißes Licht tauchte. Gleich würden sie die Lichtung erreichen, auf der das tote Mädchen an einem Seil hing. Kalt. Und allein.
Maya sah sie zuerst. Ihre nackten, hellen Beine, die durch die jungen Bäume hindurchschimmerten. Sie verlangsamte ihre Schritte und hielt Louis schließlich am Arm zurück. » Da ist sie.«
Louis ging langsam auf die Lichtung zu, während er Maya zwischen den Bäumen und dem Farn zurückließ. Sie fröstelte, obwohl sie Michelles Kapuzenjacke trug. Sie hielt die Fackel hoch, sodass das hängende Mädchen besser zu erkennen war. Ihr Kopf hing nach unten. Ihre Arme und Beine bewegten sich kraftlos im Wind. Unter ihr lag der weggekickte Getränkekasten. Louis näherte sich vorsichtig, offenbar darauf bedacht, keine Spuren zu zerstören. Zögernd streckte er seine Hand nach der weißen Hand seiner Freundin aus, die schlaff an ihrem Arm herunterhing. Er berührte sie mit den Fingerspitzen. Dann zog er seine Hand zurück.
Lange stand er reglos auf der Lichtung, unter dem Baum, neben seiner toten Freundin, die Maya bis auf die Unterwäsche ausgezogen hatte. Dann nickte er und ging hinüber zum Rucksack, der zwischen den Wurzeln des Baumes lag. Mit einem Taschentuch nahm er ihn hoch und klappte ihn behutsam auf. Louis griff hinein, wühlte darin herum und zog einen zusammengefalteten Zettel hervor. Er hielt ihn ins diffuse Licht, um zu entziffern, was mit Kugelschreiber darauf geschrieben war.
38 . LOUIS
Louis hielt den auseinander gefalteten Zettel ins Mondlicht. Seine Hände zitterten, als er entzifferte, was Michelle mit Kugelschreiber auf das Karopapier notiert hatte.
Louis, ich liebe dich. Mein Leben. Für immer.
Er drehte das Blatt um. Auf die Rückseite
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