Der Atlantik - Biographie eines Ozeans
Territorium voll endloser Wälder und schäbiger kleiner, für Rückständigkeit stehender Orte in ein Gebiet mit brandneuen Fabriken zur Fischverarbeitung, riesigen Transportunternehmen und unzähligen Vermarktungsgesellschaften. So sah das moderne, reiche, endlich aus seinem Schlummer gerissene Neufundland aus: Die Einwohner galten plötzlich als vom Glück begünstigte Menschen. Irgendjemand scherzte, dass man »In Cod We Trust« (»Wir vertrauen auf den Kabeljau«) statt »In God We Trust« (»Wir vertrauen auf Gott«) zum Motto der Provinz erheben solle. Ein paar berauschende Jahre lang sah es wirklich so aus, als könnte es ewig so weitergehen, doch in Wirklichkeit war einem Moloch Leben eingehaucht worden, der nicht mehr zu kontrollieren war.
Dann begannen die Fangmengen abzunehmen. Anfang der neunziger Jahre fingen die Wissenschaftler an, neue Zahlen zu veröffentlichen, die zu erkennen gaben, dass die Kabeljaubestände im Gebiet der Banks dabei waren, drastisch zurückzugehen; die Zahl der laichenden Fische – die von entscheidender Bedeutung für die Zukunft war – schrumpfte so rapide wie ein Luftballon, in den jemand ein Loch gepiekt hatte. Die Regierung, die sich bewusst war, was für einen wirtschaftlichen Boom sie Neufundland beschert hatte, schlug eine keep-smiling- Strategie ein und erzählte jedem, der bereit war zuzuhören, dass alles in bester Ordnung sei. 1992 bekamen ihre Meereskundler – die Leute, die mit ihren Schätzungen so falsch gelegen hatten – die Konsequenzen ihres Irrtums zu spüren und schlugen vor, die jährliche Gesamtfangquote auf 125000 Tonnen zu beschränken. Doch die Politiker pfuschten ihnen dazwischen. Minister versuchten, den Götzen zu besänftigen, indem sie diese Zahl ignorierten und ihrerseits die Quote fast doppelt so hoch ansetzten, nämlich auf 235000 Tonnen. Doch sogar das empfanden sie als in politischer Hinsicht riskant. Regierungsvertreter sahen sich gezwungen zu erklären, dass diese Menge zwar weit unter den fantastischen 810000 Tonnen liegen mochte, die den Fischern 1968 in die Netze gegangen waren, dass es sich aber um eine vorübergehend erforderliche, so maßvoll wie möglich gehaltene, kluge und vernünftige Reduktion handle.
Von wegen klug und vernünftig. Eigentlich war die Maßnahme überflüssig, denn gleich nach Beginn der Fangsaison trafen unerwartete Hiobsbotschaften von der Fischereiflotte ein: Sosehr sie sich auch abmühten, gelang es den Fischern von Neufundland nicht einmal, ein Zehntel der erlaubten Menge zu erbeuten. Und langsam dämmerte es allen: Etwas Schreckliches und Unvorstellbares war geschehen. Die Kabeljaubestände waren ganz einfach erschöpft.
Die Trawler fuhren aus, senkten ihre Netze ins Meer und öffneten deren Schlünde; dann schleppten sie sie für die ihnen zugestandene Zeitspanne über den Meeresboden und zogen sie anschließend wieder hoch – um festzustellen, dass sie genauso leer waren wie zuvor. Die kleinen Fischer, die näher an der Küste, innerhalb der Zwölf-Meilen-Zone auf Fang gingen, ließen ihre Leinen über den bekannten Revieren hinab, und wenn sie sie später wieder einholten, glitzerten die Haken blank und nackt im Sonnenlicht.
Plötzlich sah man sich mit der Wahrheit konfrontiert. Was stattgefunden hatte, seitdem man die Zweihundert-Meilen-Zone eingerichtet und die Ausländer verjagt hatte, war nichts anderes als eine Art enthemmter Party gewesen, auf der sich alle mit ein paar Shots oder mit Koks zugedröhnt hatten. Und jetzt zeigten alle, die mitgefeiert hatten, die Symptome eines bad trip. Die Party war vorbei.
Und so blieb der wie benommen wirkenden Regierung keine Wahl: Sie ließ die ganze Fischereiwirtschaft einstellen. Im Juni 1992, nahezu fünf Jahrhunderte nachdem John Cabot berichtet hatte, dass diese Region des Ozeans von den prachtvollsten Seefischen wimmelte, hatte der Mensch sie sich alle einverleibt. Es hieß, dass die Gewässer um Neufundland einst wohl um die 1,5 Millionen Tonnen laichreifen Kabeljaus enthalten hatten, jetzt gab es in den Buchten vielleicht noch sechzigtausend Tonnen – so gut wie nichts. Die See war dort wie leer gefegt. Die Grand Banks waren keine Fischgründe mehr.
Und so ist es bis heute geblieben. Es hat Experimente zur Wiederaufnahme der Fischereiwirtschaft gegeben, die aber alle nach einiger Zeit eingestellt wurden. Wie ich bald herausfand, als ich an der Küste der Bonavista-Halbinsel entlangfuhr und in solchen Hafenstädten wie Catalina, Port Rexton,
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