Der Aufbewarier (German Edition)
können Sie sich nicht vorstellen. Die wollen Sie sich auch gar nicht vorstellen.«
Er ging zum Waschbecken, drehte den Wasserhahn auf und füllte ein Glas, das er in einem Zug leerte. Den Polizisten den Rücken zugekehrt, sprach er weiter.
»Martha und ich passten nicht zusammen, aber das hat nichts damit zu tun, dass sie Jüdin ist. Aber weil sie es ist, bleibe ich so lange ihr Mann, bis es auch in diesem Land keinem Todesurteil mehr gleichkommt, einen bestimmten Glauben zu haben. Außerdem, Herr Kommissar, ist da auch noch mein Kind. Haben Sie Kinder?«
Rösen schüttelte den Kopf.
Grahn drehte sich um.
»Sie vielleicht, Herr Wachtmeister?«
»Ja, drei, einen Jungen und zwei Mädchen.«
»Und? Würden Sie die beiden ohne Mutter aufwachsen lassen wollen?«
Daut musste sich eingestehen, dass dieser Mann ihm imponierte. Wie viele Deutsche hatten in den vergangenen Jahren ihre Partnerinnen verlassen, weil sie Jüdinnen waren? Grahn sah ihn an, er wartete auf eine Antwort.
»Ich verstehe Sie, ich verstehe Sie sogar sehr gut.«
Rösen sah Daut entgeistert an.
»Nun mal langsam. Eine Sache bleibt noch zu klären. Sie haben sich mit einem gewissen August Quint, zu dem Ihre Frau ein - nennen wir es vorsichtig - äußerst gutes, kollegiales Verhältnis hatte, laut und heftig gestritten. Ist das richtig?«
Grahn stellt das Wasserglas mit einem lauten Krachen auf den Tisch.
»Und ob! Dieser Quint hat sich an Martha rangemacht, und ich habe ihm klipp und klar zu verstehen gegeben, dass ich ihm eigenhändig den Hals umdrehe, wenn er sie und die Kleine nicht genauso beschützt, wie ich es tun würde, wenn ich nicht da draußen im russischen Dreck liegen müsste.«
Grahn starrte die Polizisten für einige Sekunden an, ehe er sich umdrehte und wortlos die Küche verließ. Daut und Rösen hatte alle Fragen gestellt und verabschiedeten sich von Alma Winkelbauer.
Als Daut die Autotür öffnete, blieb Daut noch einen Moment stehen und sah zur Grahnschen Wohnung hinauf. Er schüttelte den Kopf.
»Eifersucht passt nicht zu diesen Leuten. Nicht zu Grahn und nicht zu Quint. Wir sind da auf dem Holzweg, Axel, und müssen aufpassen, dass wir uns nicht verrennen. Lass uns noch mal in die Wohnung von Martha Grahn fahren. Vielleicht haben wir ja etwas übersehen.«
Dreiunddreißig
Carla verzweifelte langsam. In den vergangenen drei Stunden waren mehr als vierzig Männer und einige wenige Frauen mit Kindern aus dem Haus gekommen. Die meisten wurden von glücklichen Frauen oder Männern erwartet. Es hatte Umarmungen gegeben, Küsse und Freudentränen. Mit jedem Freigelassenen wuchs die Hoffnung, dass nach und nach alle Inhaftierten zu ihren Familien zurückkehren könnten. Bis dieser Junge durch die Tür kam. Er war höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt und wurde von seiner Mutter erwartet. Er hieß Klaus, und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er mit dem Erlebten lange nicht fertig werden würde. Die Frauen bestürmten ihn mit Fragen, wie jeden, der das Haus verließ. Er hörte sie sich an, ohne zu antworten. Seine Mutter versuchte, ihn abzuschirmen.
»Du brauchst nichts zu sagen, Junge.«
Und zu den anderen Frauen gewandt:
»Nun lasst ihn doch in Ruhe. Ihr seht doch, wie verstört er ist.«
Sie legte ihren Arm um ihn und wollte gehen. Unvermittelt schüttelte er sie ab.
»Lass mich.«
Er drehte sich zu den Frauen um.
»Ich kann euch nicht viel sagen. Ich war in einem Zimmer mit zwanzig anderen. Die Hälfte haben sie gestern Abend abgeholt. Es hieß, sie bringen sie in ein anders Lager und von dort zum Bahnhof. Morgen soll ein Transport in den Osten gehen. Arbeitslager.«
Es gab keinen Aufschrei, kein Wehklagen. Nur Stille. Als wollte der Junge ihnen ein Stück der gerade zerplatzten Hoffnungen zurückgeben, setzte er hinzu:
»Aber das sind alles nur Gerüchte, hört ihr. Gerüchte.«
Er drehte sich um und nahm seine Mutter mit der Unbeholfenheit des gerade erwachsen gewordenen Sohnes in den Arm. Seine linke Hand steckte er in die Jackentasche, und sie gingen davon.
Die Frauen gingen zurück auf die andere Straßenseite. Sie schwiegen. Parolen riefen sie schon lange nicht mehr, dafür waren sie zu erschöpft. Das Wechselbad von Hoffnung und Verzweiflung raubte ihnen die Kraft. Nur Carla wollte sich nicht damit abfinden, dass man sie im Unklaren ließ. Sie ging zurück zur Eingangstür und sprach den Wachmann an.
»Warum sagt ihr uns nicht, was da drin geschieht?«
Sie drängte den Wachmann zur
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