Der Aufgang Des Abendlandes
irgendwelche Allgemeingültigkeit zuzusprechen. Monarchie ist wahr für Fürsten und Adel,
Republik für kapitalistische Bürger, Sozialismus für Arbeiter, katholische oder protestantische Dogmen
vornehmlich für deren Priester, denn selbst hier ist die Gemeinschaft der Gläubigen nur eine soziologisch
zwangsweise, meist ohne jede freiwillige Überzeugung. Es gibt also keine sozialen oder kirchlichen Wahrheiten und, wenn
man ehrlich sein will, auch keine wissenschaftlichen, jedenfalls nicht für die Allgemeinheit, sofern nicht irgendein
materieller technischer Nutzen damit zusammenhängt. Wissenschaft ist Wahrheit für die Wissenschaftler, die
obendrein noch ihren Nutzen suchen (Bezahlung, Ämter, Titel). Wahrheit um ihrer selbst willen suchen ist nur die Art
ämterloser Literaten wie Lessing oder eines nicht mal als Privatdozent zugelassenen Eugen Dühring, womit
natürlich nicht gesagt sein soll, daß eine ehrlich gesuchte Lösung wie Dührings heroische Mechanistik
besser ausschauen müsse als die auf dem Katheder gepredigte. Diese rücksichtslose Logik aus obigen Prämissen
ist die Wahrheit über menschliche Wahrheiten.
Laut Schiller ist die Welt nur meine Erfahrung, ergänzt »durch die Erfahrung, welche ihre Natur mich
voraussetzen läßt«. Wirklich sei diese Welt just so lange, als sie unsere Erfahrung erläutert. Die
»allgemeine Welt, wie wir sie alle erfahren«, sei eine soziale Konvention, die wir für praktische Zwecke
postulieren. Sie ist niemandes besondere Erfahrung, doch es wird einfach angenommen, daß sie jedermanns Erfahrung
gewährleiste. Der Philosoph nimmt frischweg an, daß er selber existiere, welche Annahme die übrigen
Existenzen nichts angeht. Daß diese existieren, nimmt er erfahrungsgemäß an, ohne es verbürgen zu
können. Das Bestehen einer materiellen objektiven Welt ist nur Annahme, die für des Philosophen eigene Existenz
nötig erscheint? Je ne vois pas la necessité. Denn wenn obige Welt »Niemandes Erfahrung« ist, so kann
sie auch der Philosoph nicht erfahren, und wie kann sie »wirklich« und »objektiv« sein, wenn sie nur
eine »soziale Konvention« (eine für alle verbindliche Vorstellung) ist? Da wir den Tod und die Verwesung
anderer Wesen nie selbst an uns erfahren, warum soll denn sein Koeffizient Leben eine erfahrungsmäßig nötige
Annahme sein? Dann sind Tod und Leben anderer für uns gleichweise unwirklich, und wenn sie zusammen die Menschheit
ausmachen, dann ist auch diese nur eine unwirkliche Vorstellung. Es ist nur zu wahr, daß wir über fremde Iche
keine Erfahrung haben, sondern nur Annahmen. Doch wenn sie keinen Teil seiner Erfahrung bilden, bildet Schillers Ich selbst
einen Erfahrungsteil für andere? Nein. Doch wenn er existiert (cogito, ergo sum), dann müssen notwendig auch die
andern existieren und die Welt dazu, sie sind alle geradeso wirklich und unwirklich, er würde sonst für sie auch
nur eine Annahme sein. Wer an der Wesenheit eines Mitwesens zweifelt, darf auch der eigenen nicht gewiß sein.
Diese Mischung aus Descartes einer- und Berkeley-Fichte andererseits erzeugt einen saubern Pragmatismus oder Humanismus,
in dem sowohl das Pragmatische als das Menschliche verschwimmt und unter Flagge strenger Begriffsgliederung keckster
Subjektivismus in ein Weltmeer hinaussegelt, das sich in Nebel hüllt. Doch ein Lichtstrahl fällt durch die Wolken:
»Die unbesiegliche Individualität der Philosophie«. Denn »das erfahrene Selbst«, die
Persönlichkeit ist »die formale genügende und abschließende Ursache jeder Erklärung«... der
Weltdinge? Herrlich, klingt's auch wunderbar. Heißt: jede Philosophie ist rein persönlich. Der Philosoph besitze
»eine verantwortliche Persönlichkeit, eigene Seele und Bewußtheit« und sei nicht »eine
bloße Phantasmagorie von Abstraktionen, ein vorübergehender Komplex schattenhafter Formeln, die man Naturgesetze
nennt.« Bravo, der Pragmatist wird grob gegen pragmatische Mechanistik, deren Vertreter über so aufrichtige Absage
der Lebenspsyche an schattenhafte Formeln schaudernd ihr Haupt verhüllen. Doch leider sind auch wir nicht erbaut von
schattenhaften Begriffen wie verantwortliche eigene Seele, worunter er ja nur den Kausalkomplex Ich versteht. Was er für
den Kernpunkt seines Systems hält, ist die zwecksetzende Absichtlichkeit (purposiveness) unseres Denkens und der
teleologische Charakter seiner Methoden. Wohl und gut. Schätzt man die Persönlichkeit so hoch ein, so
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