Der Aufgang Des Abendlandes
folgert von
selbst, daß jede individuelle Wahrheit nur einer andern höchstens ähnlich, doch nie ganz die gleiche sein
kann, daß allgemeine Wahrheit nie einer »sozialen Konvention« innewohnt, daß aber auch Untersuchung
über Wirklichkeit der Außer-Ich unnütz ist. Denn eine Einzel-Persönlichkeit ohne Bezug auf andere ist
unmöglich, sie wird sich gerade erst durch die Reibung mit andern ihrer bewußt. Bin ich also individuell, so sind
es alle andern außer mir auch. Ist nun wahr, daß Ideen und Ideale geradeso eigene individuelle Zwecke ihres
Urhebers verfolgen wie praktische Handlungen des persönlichen Daseinskampfes und daß sie teleologisch verfahren,
etwa eine »prästabilierte Harmonie« zwischen sich und dem All herstellen wollen? Ja, sicher, auch umgekehrt:
Der am Leben und an sich selbst Verzweifelnde begrüßt den Verzicht auf Gott und Fortdauer, er will Materialist
sein. Der religiöse Fanatiker, sei er Christ oder Moslem, findet orthodoxe Dogmen für sich passend und schwört
darauf. Der Buddhist oder Theosoph huldigt reiner Anschauung, weil er geistig und sittlich damit harmoniert. Was Plato,
Giordano, Kant oder Pascal, Descartes oder Locke, Comte, Spencer oder Fichte, Hegel, Schopenhauer lehrten, entsprach genau
ihren eigenen Wesen. Und wenn Mohammed und Luther reine Individualisten, so haben sogar Buddha und Jesus ein gewisses
individuelles Gepräge, freilich schon in sehr beschränktem Sinne, wie denn die christlichen Mystiker und indischen
Büßer sich bestreben, die Individualität völlig auszulöschen. Denn je erfolgreicher die Selbstsucht
des Ich bekämpft, die Materie verachtet und das Transzendentale gesucht wird, desto geringer ist die Ich-Färbung
einer Lehre. Solche Heilige und Heilande bringen mehr oder minder das subliminale Selbst zur Anschauung, welches jenseits des
Subjektiven die Objektivität Gottes in sich trägt.
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Wäre das Ich-Bewußtsein ganz unüberwindbar, so könnte keine reinere religiöse oder
philosophische Lehre eine innere Wahrheit ausströmen. Zunächst bringt aber die ungeheure sittliche und geistige
Verschiedenheit der Individuen einen sehr großen Wertunterschied ihres Denkens und Fühlens hervor. Soviel sich der
Philister auf praktische Schläue und sogenannten gesunden Menschenverstand einbildet, wagt er doch nicht, sich mit
höheren Persönlichkeiten zu vergleichen, die er treffend »gottbegnadet« nennt. Nur dem Rohesten und
Ungebildetsten fällt es ein, dies zu leugnen, Bolschewismus müßte daher den völligen seelischen
Bankerott herbeiführen, wenn nicht auch hier »Führer« wie Lenin und Trotzky ein gewisses Pathos der
Distanz erzwängen. Nun, die wirklichen geistigen Führer der Menschheit (worunter beileibe nicht
»Professoren« zu verstehen sind) zeigen seit Anbeginn eine gewisse Übereinstimmung, und es muß betont
werden, daß die Führer des Materialismus (französische und englische Sensualisten, Büchner, Moleschott,
Vogt, Häckel) als Persönlichkeiten sehr tief unter den großen Denkern oder Religionslehrern stehen. Diese
aber sind alle einig in Anerkennung und Beschauung einer idealen Transzendentalwelt, selbst Schopenhauers Verneinung der
Sansara gipfelt in Bejahung des Nirwana, d.h. des Verlöschens der Selbstsucht in der Unendlichkeit. Der wahre Goethe
kehrte zu den mystischen Anwandlungen der Jugend (Jung-Stilling) im Alter zurück, um rein theosophisch nicht länger
den Pan, sondern den Allgott anzublicken. Die größten Tatgenies waren teils überhaupt religiös, wie
Cromwell und Bismarck, teils deistisch, wie Napoleon und Friedrich, dessen Kokettieren mit Lamettries L'Homme-Machine sich
eben nur auf die verachteten vergänglichen Menschen bezog, ohne damit ein höchstes Wesen und eine transzendentale
Weltordnung anzutasten. Die Autoritätsgläubigkeit der Menge, im Daseinskampf so oft am falschen Platze, hat aber
ganz recht, sich auf das Vorbild größerer Männer zu berufen, die kleinen Persönlichkeiten vertrauen auf
die großen, daß diese mehr Wahrheit sehen können. Und zwar natürlicherweise, weil alle Größe
sich nach dem Grade richtet, wie weit das subliminale Selbst sich nach oben ringt. Allzeit entstand und bestand
schöpferische Größe (so sehr verschieden vom kleinen Ichverstand) aus Fühlen und Anschauen einer
höheren als der materiellen Welt, welche sich ihrem Unbewußten offenbart. Dies ist die wirkliche
»Offenbarung«, die in Tausenden von Bibeln jeder Form (Tat
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