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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Bleibtreu
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Weltverbesserer untergehen lassen. Warum soll man diese Nebenmenschen lieben und ihrer Selbstsucht die eigene opfern? Solcher
Impuls mag ethisch verführerisch sein, kann aber vor der Vernunft nicht bestehen, weshalb es der Materialist auch leicht
hat, über Vaterlandsliebe zu spotten, die ja meist auf unklarer Hypnose beruht. Nun vergißt der Kosmopolit,
Pazifist, Evolutionist, Altruist oder wie die Leute sich nun nennen mögen, daß Menschheitsliebe den gleichen Spott
verdient, weil die Menschheit genau so selbstsüchtig gemein wie der einzelne. Und was fangen wir mit dem Tatwamasi
»Ich bin Du« der Inder an? Grob empirisch wäre ja auch dies ein Aberwitz, denn die unendliche Ungleichheit
ethisch und intellektuell ist nicht wegzuzaubern.
    Wenn Goethe sich gelegentlich dazu verstieg, er finde in sich die Keime zu jedem Verbrechen, so betrachten wir dies als
poetische Lizenz, die unklar eine gewisse Wahrheit auf die Spitze treibt. Ebenso übertreibt Hebbels Tagebuch: Bei
Veränderung äußerer Umstände der Richter an Stelle des Mörders. Soll heißen, man dürfe
den Mörder nicht pharisäisch verdammen, sobald man sich an seine Stelle unter Schicksalszwang versetzt? Sehr wahr.
Doch der Vers eines Gründeutschen »Ich bin durch nichts vom Mörder unterschieden, als durch die Gabe des
Gedichts und reinem Seelenfrieden«, wobei »Unterschied von Bös und Gut die sittlichen Begriffe« als
»alte Henkerskniffe« belächelt werden, prahlt Unreife als Reife aus. Viel tiefer hat Wildes unsterbliche
Zuchthausballade die Wahrheit erfaßt, daß jeder Mensch unentrinnbarem Karma folgt, was aber gerade die dauernde
Ungleichheit nicht nur äußerer, sondern vor allem innerer Lebensbedingung bedeutet. Denn Hebbels Spruch
heißt richtiger: Mancher Richter wäre ein Raubmörder geworden unter gleichen Bedingungen, mancher
Mördergeist versteckt sich als grausamer Richter, Verallgemeinerung aber ist unsinnig, denn mancher Richter würde
unter keinen Umständen zum Verbrecher. Mancher Verbrecher erlag nur vorbestimmtem Augenblickszwang und wäre ein
Hort der Gerechtigkeit wie Michael Kohlhaas, wenn sein Karma es erlaubte, das heißt aber keineswegs, daß das Gros
der Gewohnheitsverbrecher zur Kohlhaasart gehört. Der gleiche Spaß, wie wenn ein Blaustrumpf schreibt »der
Mann« und männliche Blaustrümpfe »die Frau« oder »der Hund«, »die Katze«
allgemein verbindliche Hunde- und Katzenpsychologie hergeben sollen. Die Frauen sind unendlich differenziert, die Männer
weniger, doch ist nicht jeder Mann ein brutaler Schuft, und wenn der größte Tierkenner Brehm die Hundeanbetung
schroff verpönt und dafür die Katze übermäßig preist, so besagt das nur, daß es eben auch
viele schlechte Hunde und manche edle Katze gibt. »Die sittlichen Begriffe« aber sind nur dann hinfällig,
wenn sie als Formelschablone gesellschaftlicher Konvention auftreten. Das ist schon deshalb erbärmlich, weil eben die
Ungleichheit der Individuen und ihrer Lebensbedingungen keinerlei Schablone zuläßt und die äußere
Handlung nur äußeres Kausalergebnis vorbestimmter Umstände, nicht aber die allein maßgebende Gesinnung
auslöst. Wenn also Hebbel richtiger gesagt hätte, mancher Mörder könne vor Gott besser sein als sein
Richter, so ist dies schon ausgedrückt im Schacher am Kreuze, dem Jesus verheißt: »Morgen wirst du im
Paradiese sein«, weil in jenem seine innerste Natur durch Todesnot als gottgläubig herauskommt: »Herr, ich
glaube an dich«. Alle scheinbaren Widersprüche und Ungerechtigkeiten der ewig ungleichen Lebensläufe
lösen sich spielend durch das Karmagesetz, hier aber lautet die entscheidende Frage: durch was wird der sterbende
Sünder gerettet, dessen Lebenserfahrung doch über Nächsten- und Menschheitliebe höhnisch lachen
würde? Durch Liebe zu Gott, den er in einem Gottmenschen verkörpert sieht. Jetzt erkennen wir, daß des Inders
Tatwamasi nichts mit sinnloser Nächstenliebe zu tun hat, sondern sein Wohlwollen für alles Geschaffene nur
Kausalfolge seiner Gotterkenntnis ist. Wer Gott liebt, liebt alle seine Werke.
    Bei Ehrfurcht vor der unerforschlichen Macht geht das »Wahre« natürlich dem »Guten« voran.
Erst aus diesem Gedankengang besann sich der Mensch auf seine sittliche Identität mit dem Nebenmenschen, dem er sich nur
»in Gott« nahefühlt. »Ewige Sehnsucht der Welt nach dem Gleichgewicht« (Leonardo) begründet
eine innere Mechanik der Ethik.
    Man darf nun fragen, ob

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