Der Aufgang Des Abendlandes
das stumm und stolz auf den Narrenversuch herabschaut, es mit Wespenstichen zu vergiften.
Kirchliches ist nur Angelegenheit der Staatspolitik und des geistigen Pöbels, heute geht der Kampf gegen alles
Religiöse, wie ja der Antichrist keineswegs vor andern Religionsorganisierungen haltmacht, und selbst damit gibt man
sich nicht zufrieden, sondern der Angriff richtet sich gegen jeden Idealismus. Doch Miasmen dieser Ansteckung einer
seelischen Malaria betäuben nur die Schwachen, denen früher ihr »Herr Jesus Christus« allzu sichtbar im
»Himmel« schwebte. Wer sich von leiblichem »Glauben« nicht freimacht – »Pistis« im
Urtext heißt richtig übersetzt »Vertrauen« –, versteckt sich in die muffige Sakristei
abgestandener Phrasen oder flüchtet, aus dem Christenhimmel vertrieben, in Theodemokratie verdrehter
Menschenvergötterung und Verbrüderung. Gehirnphysiologie aber will nie recht mit der Sprache heraus, daß sie
das letzte Wort des antipsychisch Mechanischen gesprochen wähnt.
Foreis »Gehirn und Seele« 1910 ist ein verzweifelter Versuch, das Psychische mechanistisch zu erklären,
ohne zu begreifen, daß es hierdurch noch verwickelter wird. Semon erfand zwei Fremdwörter »Engramm«,
Eckphorie«, ersteres soll die Reizwirkungen der Außenwelt bedeuten, letzteres den komplizierten Vorgang,
daß Auftauchen irgendeines Teils eines früher angeschauten Objekts zugleich das Ganze wieder wachruft. Erinnere
ich mich z.B. an eine bestimmte Uniform, so denke ich dabei zugleich an den Träger und bei diesem möglichenfalls an
einen größeren Komplex, die Armee. Dies von mir gewählte Beispiel, beliebig tausendfach zu ergänzen,
zeigt schon die Lückenhaftigkeit dieser »Eckphorie«. Denn ebensogut erinnere ich mich zuerst an den
Träger und dann an die Uniform d.h. zuerst ans Ganze, dann erst die Teile, auch ist keineswegs sicher, daß ich
mich dann an das größere Ganze der Armee erinnere. Warum ich mich plötzlich an die Uniform oder ihren
Träger erinnere, bleibt völlig dunkel. Oft tauchen plötzlich Erinnerungen auf ohne jeden Zusammenhang mit
vorherigem Denken. So lange diese Frage nicht gelöst – sie ist unlösbar außer durch Annahme eines
Doppelbewußtseins, indem das Unbewußte aus unbekannten Gründen Bilder heraufbeschwört, die das
kontinuierliche Bewußtsein unterbrechen – bleibt es aussichtslos, die »Mneme« – ein höchst
unnötiges Fremdwort für Erinnerungsvermögen als Summe aller Engramme – für Inbegriff alles
Seelenlebens auszugeben und sie in erbliche und individuelle Mnemen zu teilen, dies aber auch auf Wiederhervorrufung latenter
unbewußter Reizwirkungen der Artbildung auszudehnen. Also stete Erschaffung des Schmetterlings aus der Raupe ist
erbliche Eckphorie? Steckt hier ein tiefer Sinn, so ist er so antimechanisch wie möglich. Denn entsteht der
Schmetterling, weil die Raupe gedenkt, daß sie unter bestimmten Bedingungen so werden müsse, so ist dies ein rein
psychischer Akt, sintemal nicht die Eckphorie selber etwas schaffen kann, sondern der sie selbst erzeugende Kraftgrund.
Ferner scheint Unterscheiden von erblich und individuell hier ebenso verfehlt wie Trennung ererbter und erworbener
Eigenschaften. Erinnert man sich z.B. an verstorbene Freunde oder Feinde liebe- oder haßvoll, so bezieht sich dies nur
scheinbar individuell auf zufällige Objekte, die ebensogut andere sein könnten, sondern auf erbliche
Gemütsanlage. Der eine erinnert sich vorzugsweise seiner Feinde, der andere seiner Freunde, der dritte an keins von
beiden, weil nur Augenblicksreize ihn berühren. Naive Unlogik ist es für Monisten und Deterministen, erblich und
individuell zu trennen, man darf den Begriff der Erblichkeit, um den man nicht herumkommt, nur nicht zoologisch-darwinisch
auffassen. Für karmische Psyche und ihre »Mnemen« sind erblich und individuell das Nämliche, Byrons
tiefes Wort »Poesie ist Erinnerung vergangener und Ahnung künftiger Welten« deutet über
persönliche Erinnerung hinaus und es erscheint oberflächlicher Leichtsinn, jede Erinnerungsart aus
Außeneindrücken zu erklären. Welches Engramm soll eine Eckphorie auslösen, die sich der
äußerlich nie geschauten Bilder einer Präexistenz erinnert oder, wenn man dies Phänomen nicht Wort haben
will, Phantasiebilder aus dem Nichts formt? »Einbildungskraft« kann teilweise Kombination aus Erinnerungen sein,
doch webt in nie Dagewesenem, also nicht Erinnertem.
Veränderung aller
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