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Der Aufstand Der Ungenießbaren

Der Aufstand Der Ungenießbaren

Titel: Der Aufstand Der Ungenießbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edo Popovic
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seine Orchester. Aber unsere Epoche ist von einem irrsinnigen Lärm bezeichnet, mit jedem Tag wird es immer lauter. Auch in den entlegensten Gegenden hört man Geräusche von Motorsägen, von Baggern, von Lastwagen, von Stromaggregaten. Beethoven hat heute nur noch in der Ödnis der mongolischen Steppe oder an vergleichbaren Orten Sinn. Mhmmm, die Neunte in der Steppe, da bekomme ich beinahe einen hoch. Aber in der heutigen Zeit ist das eine ganz andere Geschichte. Deshalb ist für meine Begriffe Giya Kancheli der größte zeitgenössische Komponist. Wissen Sie, er sah mich an, als würde er mir gerade irgendein geheimes Wissen anvertrauen, er komponiert Stille.
    Eigentlich war der Alte in die Stimme von Janet Baker verliebt. Zum ersten Mal hatte er sie 1970 in München gehört. Er stand mit einer Touristengruppe im Hofgarten, als durch die offenen Fenster der königlichen Residenz diese Stimme erklang.
    Es schien mir, als würde ich zerfallen, als würde ich mich in eine Sandsäule verwandeln und als würde mich der Wind in alle Richtungen tragen, sagte er. Ich stand regungslos da, bis die Stimme verklungen war. Dann habe ich angesichts der verwunderten Blicke der Menschen aus meiner Gruppe begriffen, dass ich weinte.
    An diesem Abend trat Janet Baker im Herkulessaal der Residenz auf, und der Alte bezahlte einem jungen Mann am Eingang ein Viertel seines monatlichen Arbeitslohns für eine Eintrittskarte. Danach sah er sie nie wieder auf der Bühne, aber es verging kein Tag, an dem er nicht ihre Stimme gehört hätte.
    Ein halbes Jahrhundert, und es ist so verflogen, er schnitt mit der Hand durch die Luft.
    Und ich dachte über die E-Mail nach, die mich vor einigen Tagen erreicht hatte:
    Stalin tötete Dichter,
    auch Francisco Franco tötete sie,
    Pinochet Ugarte ebenfalls.
    Heute gibt es keinen Stalin mehr, keinen Franco, keinen Pinochet.
    Gibt es Poesie?
    Das Rätsel bezog sich auf ein weit zurückliegendes Gespräch darüber, dass unser Zeitalter nur Verachtung für die Poesie übrig hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, wer aus der Clique das Thema damals aufgebracht hatte, aber Fraktalfrau nahm es leidenschaftlich auf und behauptete, dass gute Poesie nur in Diktaturen möglich sei, dass sie nur von verfolgten und verrückten Menschen geschrieben werden könne. Die These war ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Und wir sagten ihr das auch. Doch sie stellte als Argument die morbide Haltung von Ossip Mandelstam dagegen, von dem sie damals besessen war und nach der man nur in Russland die Poesie verehre, da ihretwegen dort Menschen getötet würden. Wo ist sonst die Poesie, so fragte sich der Russe, ein übliches Motiv für Mord?
    Mandelstam, so erläuterte Fraktalfrau weiter, García Lorca, Boris Maruna, Pound, sie alle hatten ihre eigenen Diktatoren – oder ihre eigene Verrücktheit. Heute ist keine Poesie mehr möglich, und keiner schert sich mehr um die Dichter, sie sterben an Altersschwäche oder an Krankheiten, vergessen, sie werden von niemandem gebraucht. Selbst die, die noch etwas schreiben, schreiben nicht so, als würde morgen der Tod auf sie warten, sondern die Mitgliedschaft in der Akademie der Wissenschaften und der Künste, der Nobelpreis und ein festlicher Empfang beim Präsidenten der Republik.
    Das war noch, bevor Gärtner zu uns stieß, als wir uns noch über solche Dinge unterhielten. Und dann begannen wir zu töten. Wir töteten Manager, Banker und Broker, all die, die sich mit leeren Händen an Geschäften beteiligen und dabei einen riesigen Teil des Gewinns einstreichen und den Arbeitern Peanuts hinterlassen.
    So kam mir jetzt dieses Gespräch über Diktatoren und Dichter, das vor lange Zeit stattgefunden hatte, in den Sinn, während vor meinen Augen eine stürmische Nacht auf der Plaza de Santa Ana in Madrid auftauchte, in der wir vor langer Zeit heiße Schokolade tranken und den trüben Schein der Skulptur von García Lorca betrachteten, und später kaufte Fraktalfrau in der Calle del Principe von einem mageren, lächelnden, alten Mann Lorcas Canciones , gedruckt 1957 in Buenos Aires. Wozu brauchst du das denn, du kannst doch gar nicht so gut Spanisch, sagte ich. Sie sah mich an und sagte: Glaubst du wirklich so sehr an Worte?
    Welches Buch lesen Sie gerade?, unterbrach mich der Alte bei meinen Gedanken.
    Ich zeigte ihm The Books in My Life von Henry Miller, das ich von einem Regal im Flur genommen hatte.
    Eine bunte Auswahl an Büchern haben Sie dort, sagte ich.
    Ach, diese Bücher

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