Der Aufstand Der Ungenießbaren
gelaunt an.
Können Sie diese Ohren etwas weniger laut stellen, sagte ich.
Er zog den Knopf aus seinem Ohr und sagte: Wie bitte?
Ich frage mich gerade, sagte ich, ob die Gassen um den Platz Lavapies immer noch nach Urin stinken.
Fünfzehntes Kapitel
Ein Gefäß, gefüllt mit flüssigem Licht – Was hören wir, wenn es keine Geräusche gibt? – Der Bosnier – Ans Leben geheftet – Eine Journalistin aus der Rubrik Klatsch und Tratsch – »Als könnten Sie den Regen daran hindern zu fallen«
Vida liegt mit offenen Augen in einer klaren, hellgrünen Flüssigkeit. Sein Zelt kommt ihm so vor – wie ein Gefäß mit dünnen, durchsichtigen Wänden, gefüllt mit Flüssigkeit aus morgendlichem Licht. Und er liegt am Boden. Außer ihm sind ein Tütchen mit Instantsuppe, ein Teekessel, eine Reservekartusche mit Gas, eine Feldflasche und ein Einliterkochtopf aus Aluminium niedergesunken.
Der Eingang steht offen. Vor dem Zelt sieht man einen Gaskocher, über die Wiese verstreute Büsche, Felsahorne, eine Felsklippe und den Himmel darüber. Der Himmel ist klar, blau. Die ganze Nacht hindurch hat die Bora geweht. Das Zelt hat sich unter den Windböen gewunden, die kalte silikonüberzogene Zeltwand hat seine Wangen bis zur Morgendämmerung gestreichelt, dann flaute die Bora ab.
Er hört den Kuckuck bei seinem morgendlichen Rundgang, das Rufen der Vögel, die sich auf die Büsche vor dem Zelt stürzen, einige Zeit plappern sie so daher und fliegen dann weiter, ihr Geplauder entschwindet in der Ferne.
Was hören wir, wenn es keine Geräusche gibt?, kommt es ihm in den Sinn, während er aus dem Schlafsack herauskriecht. Wir sind nicht taub, wir müssen auch etwas hören, wenn es keine Geräusche gibt.
Er liegt auf dem Boden des lichtdurchfluteten Zelts. Er betrachtet seine Füße. Die Schwellung seines Gelenks ist zurückgegangen, nur ein dunkelblauer Bluterguss ist noch zu sehen. An der Stelle, an der die Schlange zugebissen hat: zwei dunkle Pünktchen. Heute könn-
te er zusammenpacken und nach Hause zurückkehren. Warum ist er überhaupt hierhergekommen? Wegen Robert, oder wegen … Mensch, wie hieß noch gleich die-
ser Bosnier? Diese Namen, sie verschwinden, als wären sie auf Wasser geschrieben. Das Gesicht voller Narben, seine Bewegungen, Erinnerungen an seine Stimme, al-
les ist noch da, nur der Name fehlt, und Vida winkt mit der Hand ab, wer schert sich schon um einen Namen, er ist dem Mensch sowieso nur angeklebt worden, ein Etikett.
Vida ist sich nicht sicher, ob der Bosnier Ende 1994 oder Anfang 1995 zu ihnen gestoßen ist, die Ereignisse wechselten so schnell, dass er sie manchmal, auch wenn die Erinnerungen ganz deutlich sind, nicht nur nicht einem bestimmten Monat, sondern nicht einmal einem Jahr zuordnen kann. Auf jeden Fall erzählte der Bosnier von einer Anhöhe bei Novi Travnik, um die monatelang heftig gekämpft wurde und wo die Granate einer Haubitze ihn aus dem Schützengraben herauskatapultierte und sein Gesicht verunstaltete.
Ich weiß es nicht genau, hatte er gesagt, aber ich glaube, dass dieses Gelände einige hundert Leben gekostet hat. Unsere und ihre zusammengenommen. Ihre – das bezog sich auf die Muslime.
Das Wort »zusammen« ließ damals etwas bei Vida klingen. Die Worte des Bosniers hatte er folgendermaßen gedeutet: Wenn wir schon im Leben nicht zusammen sein konnten, so können wir es zumindest im Tod. Ihre Tode + Unsere Tode = Zusammen. Das ist die Algebra des Schreckens, die Horrorvision von Romeo und Julia in der Manie eines balkanischen Massenschauspiels. Und all das wegen eines wertlosen Stückchens Erde. Eines GELÄNDES. Und dann hatte ihn das Schicksal auch noch zur Tulove Grede verschlagen. Auf ein weiteres wertloses Gelände. Um die Romanze »zusammen« in kroatischem Moll zu Ende zu bringen.
Eines Morgens erwischte den Bosnier ein gezielter Treffer mit einer Antipanzergranate, die die Felsen und den Himmel mit ihm bestrich. An dem Ort seines Todes fand Vida später einen Knopf seiner Uniform. Einen einzigen Knopf. Das war alles, was von ihm übrig geblieben war.
Aber Vida war nicht auf den Berg gekommen, um in seinen Erinnerungen herumzuwühlen, das hätte er auch zu Hause tun können. Er war auch nicht auf der Flucht vor jenen Problemen, die der Verlust seiner Arbeit mit sich gebracht hatte. Fliehen ist schwer, kann man überhaupt vor etwas fliehen? Es gibt keine Flucht, wir kleben am Leben, und einer, der flieht, hat sich damit noch nicht gerettet.
Zwei seiner
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