Der Aufstand
Lonsdale nervös.
«Eine Initiation», hatte Finch geantwortet. «Die erste Stufe Ihrer Aufnahme. Aber zunächst erwartet Mr. Stone, dass Sie ihm einen Gefallen tun. In den nächsten Wochen kommt in London ein Schiff an. Sie sollen Ihren Einfluss geltend machen, damit seine Ladung sicher am Bestimmungsort eintrifft, ohne dass sie überprüft wird oder jemand in Bezug auf sie irgendwelche Fragen stellt.»
Und Lonsdale hatte sich darum gekümmert. Nun aber, da er in der warmen Sonne Italiens saß und die letzten Tropfen seines Wodka-Lemon mit Eis schlürfte, befielen ihn allmählich Zweifel.
Die Initiation war schrecklich gewesen – und das nicht nur wegen des armen jungen Mädchens, das sie abgeschlachtet hatten. Noch immer ging ihm Lilliths Gesicht nicht aus dem Kopf; sie hatte ausgesehen wie ein wildes Tier, das seit Tagen nichts mehr zu fressen bekommen hatte. Die bloße Erinnerung daran ließ in seiner Kehle einen widerlichen Geschmack hochsteigen.
Wollte er wirklich ein solches Wesen werden?
Und als er nun da saß und den Blick über die Hügel der Toskana schweifen ließ, musste er andauernd daran denken, wie gründlich sich das alles ändern würde, wenn Stone ihn schließlich in den Abgrund stieße und ihn verwandelte. Dann gäbe es für ihn kein Zurück mehr. Nie wieder würde er im Freien sitzen und die herbstliche Goldfärbung der Bäume genießen können. Die Wärme der Sonne auf seinem Gesicht würde dann nur noch eine ferne Erinnerung sein – und das nicht nur ein Leben lang, sondern für eine ganze Ewigkeit in Finsternis. Wollte er das wirklich? Er würde seine ganze berufliche Laufbahn aufgeben müssen und gezwungen sein, sich fortan wie ein Verbrecher in der Dunkelheit zu verstecken.
Macht. Grenzenlose Macht. Aber um welchen Preis?
Und das Schlimmste von allem: Er würde Toby womöglich nie wieder besuchen können. Lonsdale schloss die Augen, sah das strahlende, lächelnde Gesicht des Jungen vor sich und hörte sein Lachen.
Als er die Augen wieder öffnete, waren sie feucht.
Wie konnte ich nur so dumm sein?
Doch es war noch nicht zu spät. Stone hatte ihm noch nicht einmal mitgeteilt, wann die nächste Stufe seiner Initiation stattfinden sollte. Noch konnte er aussteigen – auch wenn das bedeuten würde, Gabriel Stone von Angesicht zu Angesicht in dessen Haus in Henley gegenübertreten zu müssen. Schon der bloße Gedanke daran jagte Lonsdale eine Gänsehaut über den Rücken, doch er hatte keine andere Wahl. Plötzlich wurde ihm klar, dass er es so schnell wie möglich hinter sich bringen musste.
Er läutete das silberne Glöckchen auf dem Tisch vor ihm, und Sekunden später kam der Butler aus dem Haus geeilt.
«Roberto, lassen Sie meinen Jet startklar machen. Ich muss sobald wie möglich auf die Insel zurück.»
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Kapitel 19
John-Radcliffe-Hospital
16.25 Uhr
S ie schon wieder», blaffte die Stationsschwester Joel an. «Die Besuchszeit ist vorbei.»
«Kommen Sie mir bloß nicht so», warnte er und marschierte an ihr vorbei.
Dec Maddon saß aufrecht im Bett und blätterte in einem Comic, als Joel in sein Krankenzimmer kam.
«Was ist denn mit dem alten Mann passiert, der neben dir gelegen hat?», fragte Joel und deutete auf das leere, frischgemachte Bett.
Dec schloss das Heft mit einem mürrischen Blick. «Der ist gestorben.»
«Wie geht’s dem Handgelenk?»
«Allmählich besser. Aber was wollen Sie eigentlich hier? Noch mehr Fragen?»
«Zunächst die gute Nachricht», begann Joel und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. «Das Ergebnis deiner Blutuntersuchung war negativ. Somit wird gegen dich keine Anklage wegen Fahrens unter Drogeneinfluss erhoben. Aber offiziell dürftest du davon noch gar nichts wissen, also behalte es für dich, ja?»
«Ich hab’s Ihnen doch gleich gesagt.» Dec zog eine Braue hoch. «Und was ist die schlechte Nachricht?»
«Dass ich dich brauche, weil du dir etwas ansehen musst. Und auch das ist etwas, das du eigentlich gar nicht sehen dürftest. Das muss also unter uns bleiben, verstanden?» Joel holte sein Handy heraus.
«Um was geht es denn?»
«Um etwas, das nicht schön anzusehen ist, Dec. Du musst jetzt verdammt tapfer sein.»
«Hey, ich habe gerade mit angesehen, wie einem Mädchen die Kehle aufgeschlitzt wurde, damit ein Haufen durchgeknallter Vampire in seinem Blut duschen konnte», sagte Dec. «Schlimmer kann das auch nicht sein.»
Joel rief das Foto auf, das er am Fundort gemacht hatte, und reichte das
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