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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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doch sagen: New
    York ist Spitze. Und der Vater: Eines Eisbergs. Sie mußte sagen: Ach, Papa. Und ihn ein bißchen küssen.
    Am dritten Tag lag der Blaue, also Hansel, reglos im Käfig.
    Und der Gelbgrüne, also Gretel, saß reglos stumm auf der Stange und sah auf Hansel hinab. Hansel war tot. Alt war er
    noch nicht gewesen. Als sie gestern heimgekommen war,
    hatten beide sich benommen wie immer. Immer ein bißchen
    zu laut. Vielleicht hatte Hansel das Genick gebrochen. Hatte
    Gretel mit einem Kunststück imponieren wollen. Sie wickelte
    ihn ein, trug ihn hinaus, kratzte in dem kleinen Park mit der
    Büroschere ein Grab, beerdigte ihn, am nächsten Morgen
    kaufte sie im Zoogeschäft einen Nachfolger. Taufte ihn
    Hansel. Der benahm sich überlebendig. Der benahm sich
    genau so wie sich Hansel noch gestern benommen hatte.
    Gretel akzeptierte ihn. Also würde die Mutter nichts merken.

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    Die Eltern rauschten floridagesättigt herein, bedauerten ihre
    arme Tochter ebenso sehr, wie sie sie bewunderten − Tag und Nacht sitzt die und übersetzt diesen vertrackten Text für
    die Tagung −, luden Hansel und Gretel ein, verstanden, daß
    die Tochter dieses Mal überhaupt nicht gesellig war, und waren fort.
    Er würde an einen Pfeiler gelehnt stehen. Sie war all‐
    mählich im Stande, sich nur noch mit Konkretem zu be‐
    schäftigen. Keine Panikszenarien mehr. Nur noch, was Sache
    ist beziehungsweise sein wird. Wie geht es dir, wird sie sagen. Und er: Ich liebe dich auch. Und ohne das auch wäre ihr der Satz lieber. Vielleicht läßt er dieses auch weg. Dann der Gang zum Hertzschalter. Nein, das hat er ja schon
    erledigt. Er ist ja schon seit dem Vormittag im Land. Im Hotel. Also, der Gang zum Auto.
    Bis zuletzt wußte sie nicht, was sie anziehen würde. Sobald
    sie sich für ein Kleid entschieden hatte, drängten sich die Nachteile dieses Kleids vor. Also das nächste. Bis sie wieder
    beim ersten war. Dessen Nachteile waren durch den
    Vergleich mit den anderen Kleidern nicht weniger grell
    geworden. Es war ein Spiel. Ein Aufregungsgenußspiel. Eine
    Befreierin kann anhaben, was sie will. Sie mußte ohnehin, sobald sie anziehen dachte, an ausziehen denken. Sie wußte, sie war jetzt verrückt. Aber gefahrlos verrückt. Sie war selig
    verrückt. Ihr Begleitpaar Angst und Wut gab es nicht mehr.
    Sie wußte nicht mehr, wie das war, eingeklemmt zwischen
    Angst und Wut. Sie war so leicht wie noch nie. Steine in die
    Manteltaschen, das brauchte sie. Sonst hob sie ab.

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    III.

    Auseinanderkommen

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    I.

    Im Zimmer riß er sofort ein Fenster auf und hörte dem
    Geräuschgemenge zu wie einer Botschaft. Daß die Fenster
    des Flughafenhotels sich öffnen ließen, machte ihm den
    Hotelkasten sympathisch. Jenseits der weiten Betonpisten,
    der abgestellten Flugzeuge, der hohen Zäune das Meer.
    Wenigstens der Teil, der San Francisco Bay heißt. Die farbigen Flugzeuge, Riesenvögel, aber kein bißchen zu groß für
    die Wasserweite. Obwohl sich die Bay keine Brandung
    gestattete, war das Ufer an diesem Mittagsaugenblick von
    einer weißen Schaumrüsche geziert. Bräutlich, dachte
    Gottlieb.
    Von seinen zehntausend Dollar versorgte er gleich einmal
    neuntausendfünfhundert im Safe. Und kam sich vor wie im
    19. Jahrhundert. Nach einem Code gefragt, fiel ihm nur
    Annas Geburtsdatum ein. Im Flugzeug, beim Ausfüllen der
    Fragebögen für die Einreise, hatte er die Zehntausend, die er
    bei der Bank aufgenommen hatte, nicht angegeben. Seinen
    Bankherren hatte er ein Geschäft in Kalifornien vorgegau‐
    kelt. Landkauf im Sonoma Valley. Zukunftsreichstes Wein‐
    land der Welt. Er fliegt da für einen Kunden hin. Sogar Anna
    gegenüber hatte er getan, als werde er in den drei Wochen nebenbei noch einen Angebotskatalog für deutsche Anleger
    aufreißen. Das mußte er auch sich selber vormachen. Selbst wenn man weiß, daß das, was man sich vormacht, nur etwas

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    Vorgemachtes ist, wird aus dem Vorgemachten etwas Spür‐
    bares, Fastreales. Man kann überhaupt nicht lügen, ohne an
    das, was man lügt, zu glauben. Ein bißchen. Man kann nicht
    andere hereinlegen, ohne sich selbst hereinzulegen.
    Zumindest Gottlieb konnte das nicht. Schau lieber hinaus auf
    die bräutliche Rüsche. Das ist doch die reine Möglichkeit.
    Und dieses Hotelzimmer in seiner grandiosen Vermeidung
    von allem Persönlichen! Auch der geringste Anhauch von
    Persönlichem, gar Geschmack, könnte falsch sein, könnte
    stören. Dieses Zimmer aber, in seiner

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