Der Augenblick der Liebe
jetzt gern weiterfliehen. Aus allen diesen Gefangenschaften. Er hat sich ihr gegenüber sofort zu wenig beherrschen können. So wenig, daß er selber erschrak. Das ist ihm keine dreimal passiert in seinem Leben. Zweimal vielleicht. Aber dreimal nicht. Jetzt fragt er aber sie. Jetzt wendet er sich an sie. In was ist er (bei ihr) hineingeraten? War sie in einer Lage, daß er auf sie anders wirkte, als er war. Einem Ertrinkenden − um es krass zu illustrieren − kommt ein mittelmäßiger Schwimmer, der ihn zu retten versucht, stärker vor, als er ist. Er, Sylvandre GottliebWendelin, muß ihr vor ihre begabten Augen gekommen sein in einem Augenblick, in dem sie gerade von einer übermäßigen Verklärungskraft durchströmt war. Wie im Märchen. Den Nächsten, dem du begegnest, wirst du vergolden! Und das ist nun zufällig er gewesen. Zufälliger kann nichts sein. Andererseits gehört es zu seinen Unver brüchlichkeiten: Zufälle gibt es nicht. Also muß weiter nach geforscht werden: WARUM . Deshalb muß er im März nach Amerika reisen. Bis dahin aber Tag und Nacht forschen, um seine Themire und sich zu durchschauen. Das tut er um so lieber, als seine Themireforschung bis jetzt nur Schönes und Schönstes zutage gefördert hat. Und daß sie den Namen der Frau aus La Mettries LustBuch mit sich besetzt hat, hat ihn vorwärts, also mitgerissen. Sylvandre! Er, Sylvandre! Nur um ihr zu entsprechen. Er hat keine andere Wahl. Er muß ihr entsprechen. Oder sterben. Das aber gern. So ganz und gar schlicht ist ihm zumute. Daß er sich im Augenblick, in diesem Augenblick, fühlt wie der ausgestattetste Liebhaber aller Zeiten, erwähnt er nur nebenbei. Sie hat ihm mehr als den Kopf verdreht. Sie hat ihn um seinen Verstand gebracht. Also wird er abstürzen. Ikarushaft. Er hat die Jahrgänge vergessen. Ihren und seinen. Verdrängt? Ach nein, nicht Freud! Die fürchterliche Bedingung bleibt allgegenwärtig. Sylvandre! Es ist schlicht lächerlich. Aber was spricht da gegen, lächerlich zu sein? Liebe Themire! Sie soll ihn, bitte, lächerlich sein lassen. Erst wenn sie ihn als ganz und gar Lächerlichen erträgt, haben sie und er (vielleicht) eine Chance. Vielleicht nicht. Aber er kann seinen Empfindungen nicht beibringen, sich nach Chancen oder Nichtchancen zu richten. Wie schreibt doch der Patron im LustBuch: Welch ein bezaubernder Kampf tobte da zwischen den Kräften der Tugend, der Schicklichkeit und der Liebe. Dem März entgegenlebend, grüßt seine Themire deren Sylvandre. PS 1: Aber es bleibt ihr aufgebürdet: Warum glaubt sie, ihn brauchen zu können. PS 2: Es ist dieses ganz und gar konkrete Datum, das ihn so geschmissen hat. Aber er bleibt nicht liegen. Er fliegt. Hoch. Und zu ihr.
Jetzt erlebte sie, daß es nicht darauf ankommt, mit welchem Innen oder Außenmaterial jemand seine Liebe erklärt; es kommt nur auf den erlebbaren Heftigkeitsgrad an. Und den erlebte sie jetzt. Die Verklausuliertheit, in der er sich verstrickte, war doch eine einzige Kapitulation: Er ergab sich ihr. Diese Fragerei nach dem WARUM war nichts als ein Wortkostüm, mit dem er auftrat, um sie herauszufordern. Sie sollte ihn übertreffen. Sie sollte noch lauter als er sagen, daß sie hin sei und wie hin sie sei. Das einzig Lernbare in diesem Verklausulierungsdickicht: Er war bedürftig. Er war unterer nährt. Was ihm fehlte, war weniger wichtig, als daß ihm etwas fehlte. Aber er hielt es für möglich, daß sie ihm fehle. Und das war¹s dann doch. Sie fehlte ihm genau so wie er ihr. Und die Gründe in ihren beiden Lebensläufen lassen wir erst
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