Der Augenblick der Liebe
Jeweiligen ausmalen mußte. Denen schien ihre aktuelle Erscheinung immer nicht der Rede wert. Könnte es sein, glutet sie sich jetzt vor, daß er der zartestaufmerksamstegefühlvollste Mensch ist, den sie bis jetzt getroffen hat? Ach nein. Bitte, keine ungebührliche Er wartung, gar Forderung. Er soll das schurkischste Nullund nichts sein. Ihr ist es (er) recht. Daß sein schriftliches Immerallesgesagtewiederzurücknehmen eine Art Ehrlich keitstalent verrät, weiß sie. Aber als geschulte Textauslege rin weiß sie auch, daß sein rührender Eifer im Zurückneh men alles jeweils Gesagten auch eine stürmische Zärtlichkeit bedeutet. Glaubtsiehofftsie. Hopelessly hopeful. Themire wird im März in ihrer Kleidung, um nicht noch ungesünder auszusehen, jede leuchtende Farbe vermeiden. Sie war ja auch noch nie in Kalifornien. Das Licht dort soll ziemlich stark sein. Entblößend. Aber daß er und sie sich deshalb ausschließlich in der Lichtlosigkeit der chinesischen Restaurants treffen − wie er sarkastisch oder wirklich vor schlägt −, wird sie nicht zulassen. Sie will ihn sehenhaben begreifen, so grell wie möglich.
Sein Sichdurchsielebendigfühlen. Zwei verschiedene Arten zu fühlen. In Rosennes PhänomenologieVorlesung war zu lernen der Unterschied zwischen otherdirectedness und intentionality. Sie möchte das genau so praktizieren, wie sie es braucht. Alles. Nur sie und er sollen das Thema sein. Wie Patron Julien Offray es vorgemacht hat. Allerdings brauchte sie schon lang keinen Patron mehr. Der war ein Vorwand, ein ebenso liebens wie schätzenswerter. Aber im März, wenn die Papier und Telephonierepoche vorbei ist, dürfen sie allein und sich alles sein.
Als sie aus dem Klassenzimmer trat, regnete es, goß es. Ein tropisches Gewitter. Sie ging durch den Regen nach Hause. Zehn Minuten. Sie lächelte. Triumphierend. Sie hatte aus ihrem Fach einen Brief geangelt. Den trocken heimgebracht. Geöffnet. Gelesen. Enttäuscht. Ernüchtert. Niedergeschlagen. Fernmündlich sind sie soviel weiter als in dieser perfekten AllesbedenkenStilistik. AlibiStilistik ist das. Feigheits Syntax. Fernmündlich hatte er den Ventilator beneidet, und sie hatte gewünscht, er wäre der Wasserfall ihrer Dusche. In seiner Briefstilistik bringt er sich praktisch wieder zum Verschwinden. Sie dagegen sagt ihm einfach, sie liebe ihn und täte nichts lieber als sich ganz in ihm auflösen, das heißt, sie verschwindet nicht ihm, sondern in ihm. Wissend, daß sie danach (was für ein Unwort) weiterleben MUSS.
Den Wetterbericht, hot, hazy and humid, findet sie in sich, an sich, durch sich bestätigt. Ihm muß sie gestehen, daß sie sich nicht mehr daran erinnern kann, wie das war, ein Leben ohne ihn. Er sei, sagt sie, nicht mehr wegzudenken. Also eine Gottliebe Eigenschaft sei schon seine Allgegenwart. Wo sie ist, ist er bei ihr, im Bett, im Bad, in der Bibliothek. Wie sie sich fühlt −, das muß ein schwerer Koffeinschock sein. So verrückt war sie noch nie. Vielleicht ist sie zum ersten Mal normal. Und das hält sie nicht aus. Also zwischen Ulrike von Levetzow und ihrem Anbeter lagen 55 Jahre. Sie hat nachge schaut. Von Jahrgängen will sie nichts mehr hören. Ain¹t mis behavin¹ läuft bei ihr. Fats Waller, I¹ve got my fingers crossed / not that I¹m superstitious / I¹m afraid / it¹s too good to be true. Andererseits hat seine Stimme, die fernmündliche, zuge nommen an Zudringlichkeit und Nichtanderskönnen und eben doch auch an Häufigkeit. Dreimal täglich. Das ist doch nicht nichts, oder. Täglich dreimal. Und sie gesteht¹s ihm inzwischen: Sie hat ihn einfach unterschätzt. Und er: Er sich
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