Der Augenblick des Magiers
tatsächlich weitgehend so, wie das Irrlicht es beschrieben hatte: endlose Sümpfe und Wassermassen, die sich in alle Richtungen ausdehnten und hier und dort mit winzigen Inselchen gespickt waren.
Kurze Zeit später kam ihr Ziel in Sicht. Dort hatte eine mächtige tektonische Störung eine gewaltige schwarze Basaltmasse aus der Erde emporgespien. Sie war mit vielen mannsdicken Kletterbäumen und Schlingpflanzen überwuchert.
In Zweidrittelhöhe war eine Öffnung im Fels zu erkennen. Der Adler flog geradewegs darauf zu. Einen Augenblick lang glaubte Jon-Tom, daß diese riesigen Schwingen niemals hindurchpassen würden, doch gelang es dem Adler, sich knapp hindurchzuquetschen, ohne dabei Jon-Toms Schädel oder Beine gegen den Felsboden zu schlagen.
Die Öffnung war keine Höhle, sondern ein Tunnel, der ins hohle Innere der Spitzkuppe führte.
Der Adler schlug zweimal mit den Flügeln, bevor er auf einem Fuß landete. Beinahe verächtlich schleuderte er seine Beute davon.
Jon-Tom überschlug sich mehrmals und spürte, wie sich Geröll in seine Gesichtshaut schnitt. Er ertrug den Schmerz und konzentrierte sich lieber darauf, die auf seinen Rücken geschnallte Duar so gut es ging zu beschützen. Als schließlich zum Liegen kam, war er zwar verschrammt und hatte einige Schürfwunden, war aber ansonsten noch intakt.
Den Adler immer im Auge behaltend, stand er auf, um seine Umgebung zu untersuchen.
Die Felshöhlung war kein Vulkanschlund, sondern ehe das Ergebnis einiger Erdumbrüche. Sechsseitige Steinsäulen ragten in den fernen Himmel empor. Jon-Tom hatte sie schon zuvor gesehen, nämlich auf Gemälden, die den Giant's Causeway in Schottland und den Devil's Postpile ir der High Sierra von Kalifornien darstellten.
An jenen Stellen, wo die Säulen abgebrochen waren, hatten sich natürliche Vogelsitze gebildet. Dort waren zahlreiche Nester und Vogelheime zu erkennen. Der Boden des großen, offenen Schachts war ein Gebeinhaus voller Knochen, die von rasiermesserscharfen Schnäbeln säuberlich von ihrem Fleisch gelöst worden waren.
Die Bewohner der Nester und die Besitzer der Schnäbe waren Flugwesen von gewöhnlicher Größe. Keiner von ihnen war größer als einszwanzig. Mit wachsendem Interesse bemerkte er Kilts, die zu Habichten und Falken, zu Fisch und Flußadlern und Geiern gehörten. Sie sausten und schwammen durch die Luft des Schachts, kamen und gingen durch die obenliegende Öffnung, seltener durch der Tunnel, durch den Jon-Tom selbst hineingelangt war. Sie schienen alle auf einmal zu reden, und ihr chaotisches Geschrei war ohrenbetäubend.
Einige von ihnen kamen herbeistolziert oder geflogen, um den Riesen, der ihn mitgebracht hatte, mit einem forschen »Heil Gyrnaught!« zu begrüßen. Dabei hob jeder die rechte Flügelspitze zum Salut. Auch das kam Jon-Tom irgendwie bekannt vor, doch er beachtete es nicht weiter. Im Augenblick mußte er zu viele andere Dinge gleichzeitig aufnehmen, und er war ohnehin zu durcheinander, um zu tiefergehenden Gedanken fähig zu sein.
Zum einen war er viel zusehr in Sorge um sein eigenes unmittelbares Schicksal, da der Riesenadler kein sonderliches Interesse daran zu haben schien, ihn aufzufressen. Zumindest jetzt noch nicht. Der Knochenberg, der den Boden des Schachts bedeckte, war allerdings alles andere als beruhigend.
Wieder ragte der Schatten vor ihm in die Höhe. Der Adler sah nicht mehr ganz so beeindruckend aus wie es mit ausgebreiteten Schwingen der Fall gewesen war, doch immer noch genauso furchteinflößend.
»Aufrecht stehen!« befahl ihm der Adler. Jon-Tom, der sich immer noch zerschunden und voller Muskelkrämpfe fühlte, bemühte sich zu gehorchen.
»Die sagen ›Heil Gyrnaught‹ . Bist du Gyrnaught?« Ein winziges Nicken von Kopf und Schnabel. Der Adler war groß genug, um ihn ohne Anstrengung mit einem einzigen Biß in zwei Stücke zu zerteilen. »Was willst du von mir?«
»Kein Essen. Fleisch ist billig.« Er machte eine Geste mit der Flügelspitze. »Willkommen im Raubhorst. Man hat dich hierhergebracht, um zu dienen, nicht um bedient zu werden. Sofern du dich allerdings beweist.«
»Ich verstehe nicht.«
Wieder neigte sich der Schnabel, diesmal um auf die Duar zu deuten. »Ein Instrument. Du bist Musiker?«
»Äh, ja.« Irgendwie hatte Jon-Tom das Gefühl, daß jetzt nicht gerade die beste Gelegenheit war zu erklären, daß er auch noch Bannsänger war. Vielleicht würde er dieses Talent später noch unter Beweis stellen wollen. Das war sogar
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