Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
frische, volle Flasche dasteht. Also in diesem Fall war es so, daß die Angehörigen auch selber gehandelt haben und bereits eine Anzeige gemacht hatten. Ich war dann dort und habe dem Heim erklärt, wir sind »Pflege in Not«, wir vermitteln neutral bei solchen Konflikten – es ist so, daß die Häuser uns ja nicht reinlassen müssen –, ich habe also meine Vermittlung angeboten, aber das war ein vollkommen eisiges Gespräch. Die Parteien waren derart aufgeladen, da ging nichts mehr. Die Angehörigen haben ihre Mutter dann auch da rausgenommen. Wir sind aber drangeblieben, denn den anderen Heimbewohnern mußte ja auch geholfen werden. Da wurde dann auch die Pflegekasse eingeschaltet.
Also für die Anrufer, die sich hier an uns wenden, da ist es wichtig, daß die wissen, wir hören denen zu, wir nehmen uns Zeit, wir gehen auf die Probleme ein – und was ganz besonders wichtig ist, wir halten sie nicht für Monster, auch dann nicht, wenn sie uns drastische Dinge erzählen. Und was auch manchmal vorkommt, ist, daß die Anrufer sagen, wir möchten sehr gerne, daß sich was ändert, aber bitte-bitte, bringen Sie nicht meine Person ins Spiel. Also, wir reagieren auch auf anonyme Anrufe, allerdings muß man dann im Gespräch genau abklären, daß die Dinge hieb- und stichfest sind. Aber ich muß sagen, die meisten Anrufer nennen sofort ihren Namen. Meine Kollegin, die Psychologin Dorothee Unger und ich, wir wechseln uns ab. Momentan ist es so, daß sie sehr viele der Telefongespräche führt, während ich als Mediatorin im Moment auch in die Einrichtungen gehe und da Beratungsgespräche mache, wenn Leute einfach in einer schwierigen Pflegephase solche Gespräche brauchen. Am Anfang dachten wir ja, daß die Leute anrufen und sagen: Hilfe, was soll ich nur machen, gleich tu ich meiner Mutter was an?! Aber das passiert gar nicht, sie sagen eher, daß sie schon ’ne ganze Weile die Nummer haben, und ob sie nicht mal kommen können, zu einem Gespräch. Manche Gespräche dauern ein halbes Jahr.
Wie viele nicht anrufen, das wissen wir natürlich nicht. Weil wir keine Mittel haben, können wir natürlich auch nicht für uns werben in der Öffentlichkeit. Und wirklich ganz tragisch ist, daß es in den neuen Bundesländern überhaupt kein Krisentelefon dieser Art gibt. Keiner will es finanzieren; Mecklenburg-Vorpommern war sogar so vermessen, zu behaupten, daß sie keine Gewalt in der Pflege haben, was ein Schwachsinn ist! Das sehen wir ja hier in Berlin, wo wir Anrufe aus Ost- und Westberlin gleichermaßen haben. Und es ist, grade auch auf dem Land, in den neuen Bundesländern besonders, ja ganz schlimm mit der Arbeitslosigkeit. Da wird die Aufnahme der gebrechlichen Eltern natürlich zu einem unverzichtbaren Einkommen. Es lebt dann die ganze Familie mit von der Rente und vom Pflegegeld. Dabei möchte die Mutter aber vielleicht lieber ins Heim, als in irgendeinem Hinterzimmer auf den Tod zu warten. Die Kinder sind aber strikt dagegen, der Sohn befürchtet, er muß dann das Haus verkaufen, um für die Heimkosten mit aufzukommen – was unrichtig ist –, oder, wenn sie ins Haus der Mutter gezogen sind, dann wird die Sache schon schwieriger. Jedenfalls ist die gegenseitige Abhängigkeit in der Pflegesituation oft noch mal durch den materiellen Faktor verschärft, und da entstehen mit Sicherheit Probleme, für die es nirgendwo Rat und Hilfe gibt.
Seit 1995 besteht ja die Pflegeversicherung; es gibt verschiedene Pflegestufen, in die der Pflegebedürftige eingeordnet wird, und da bekommt er derzeit bei Stufe I 205 Euro, bei Stufe II 410 Euro und bei Stufe III 665 Euro. So, und nun kann der Pflegebedürftige selbst bestimmen, wer ihn pflegt. Er kann seinen Partner einsetzen, seine Kinder, aber auch Freunde, Nachbarn, wenn er will. Also es könnte im Prinzip jeder pflegen. In diesen Fällen gibt’s dann einmal im halben Jahr eine Art Kontrolle, es kommt jemand von der Kasse vorbei zu einem Beratungsgespräch; da wird dann gefragt, ob alles zufriedenstellend ist usw., denn die Kasse will ja, daß das Pflegegeld dem Gepflegten zugute kommt. Oder aber der Pflegebedürftige entscheidet sich für professionelle Hilfe, nimmt einen Pflegedienst. Die bekommen so etwa 180 Euro mehr von der Kasse; es werden die Pflegestufen ja berechnet nach Pflegeminuten, die da über den Tag verteilt anfallen, und das soll an sich ganz genau ausgeführt werden, was da an Leistungen anfällt, und es wird auch vom Pflegebedürftigen – oder
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