Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
hab’ ich’s dann in Hunderter aufgeteilt.« Ich frage: »Und was weißt du dann?« Er zögert und lacht: »Na ja, was ich dann weiß, das weiß ich eigentlich jetzt schon – aber ich bin ja noch nicht am Ende.«
Wir steigen die Treppen hinauf, betrachten die überall an den Wänden hängenden Portraits, die die Kinder voneinander und von den Lehrern gemacht haben. Sie haben den sprühenden Charme unbeeinflußter naiver Kunst. Alle Klassenzimmertüren stehen offen. Die Unterrichtsräume sind hell, und man sieht ihnen an, daß hier nicht nur Unterricht empfangen wird, sondern daß man sich hier auch bewegt und auf verschiedene Weise arbeitet. Bücher stehen in den Regalen bereit und die Montessori-Demonstrations und-Lernmaterialien. Die Einrichtung ist spartanisch und wird ständig variiert; mal sitzen die Schüler im Kreis, mal arbeiten sie an den Tischen oder auf dem Teppichboden sitzend, das gilt hier nicht als unbotmäßiges Verhalten, sondern ist Bestandteil der körperlichen Entwicklung und Bewegungsfreiheit. Das ist, so Frau Kegler, eines der obersten Gebote. Dann zeigt sie uns die Bibliothek, in der lebhafter Betrieb ist. Sie wird von den Müttern verwaltet, jeden Tag hat eine andere Mutter Dienst. Mitten im Raum steht ein mongoloider Junge und liest in einem Buch, das er fest und in Augenhöhe hält. »Darf ich mal kurz stören, bitte, und fragen, was du liest?« sage ich vorsichtig. Er betrachtet mich kurz und sagt bereitwillig: »›König der Löwen‹, das ist von Walt Disney. Ich gucke da jetzt so die … Vergangenheit …, die soll ich dann erzählen … ein Video habe ich auch angeschaut…« Dann senkt sich sein Blick wieder ins Buch. Draußen im Flur erklärt Frau Kegler: »Wir haben in jeder Klasse zwei bis drei Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf – so heißt das –, also, wir haben geistig behinderte Kinder, autistische Kinder, auch körperbehinderte Kinder. Sie nehmen ganz normal am Unterricht teil, gemeinsam mit ihrer Klasse, aber sie müssen nicht die Lernziele erreichen, die für die anderen gelten. Da gibt es Sonderpädagogen und einen eigenen Rahmenlernplan; danach wird z. B. der Junge unterrichtet, mit dem Sie grade sprachen, jedes dieser Kinder hat seine ganz individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse.« Sie grüßt zwei ältere Schülerinnen mit Namen und sagt im Weitergehen: »Ich bemühe mich sehr, alle 460 Schüler mit Namen zu kennen, denn ich finde es unglaublich wichtig, jeden einzelnen Schüler als Person wahrzunehmen, ihm das auch zu signalisieren. Gehen wir noch nach oben, wo die Großen sind, da herrscht übrigens die wirkliche Revolution, die machen überhaupt keinen gelenkten Unterricht mehr, die sind ganz souverän.« Wir kommen vorbei an einer großen, eurozentristischen Weltkarte, die die Wand im Flur bedeckt, auf der anderen Seite ist eine ozeanische Weltkarte, und am Unterschied lernen die Schüler, sozusagen auch im Vorbeigehn, daß die scheinbar allgemeingültige Darstellung der Welt nur eine Frage der Perspektive des Betrachters ist und der seiner Macht, die sie zur verbindlichen für alle zu machen.
Bevor wir im Erdgeschoß ins Direktionszimmer geführt werden, zeigt uns Frau Kegler noch das Schwarze Brett, an dem, wie an der Uni üblich, Kurse usw. angekündigt werden. »Hier finden die Kinder die Präsentationen und welcher Lehrer heute was anbietet, so können sie sich frei entscheiden, wohin sie gehen möchten. Und sollte jemand bestimmte Themen deutlich meiden, so gibt es einen Beratungslehrer für solche Fälle, der darauf hinweist und das Problem lösen hilft.« Frau Kegler bespricht sich kurz mit der Schulsekretärin im Vorzimmer. Danach steht sie uneingeschränkt zur Verfügung, bewirtet uns mit Kaffee und belegten Baguettebrötchen. Sie erzählt: »Wir fangen um acht Uhr an, wie überall, aber wir fühlen uns sehr für die Schüler verantwortlich und nehmen sie bereits ab 7.30 Uhr in Empfang. Die Klingel, wie gesagt, ist abgeschafft, dennoch finden sich alle rechtzeitig ein. Wir haben einen sogenannten rhythmisierten Schulalltag, d. h., wir machen einen mindestens neunzigminütigen Unterricht, statt der üblichen 45 Minuten. Zwischendurch gibt es eine halbstündige Pause, in der sie in die Cafeteria gehen können, in der Klasse bleiben, in den Hof gehen oder auf dem Flur irgendwas machen, jeder, wie er mag. Mittags haben sie eine Stunde Pause zum Essen, Plaudern, Spielen. Es ist uns wichtig, daß die Schüler lange Zeit für die
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