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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Moulagenarbeit (u. a. in »Der Präparator« 39/1993). Elfriede Walther wurde 1919 in Dresden geboren, ihr Vater war Schmied, die Mutter Hausfrau, sie ist seit 1992 verwitwet und hat keine Kinder.
    Eine Moulage ist eine dreidimensionale, naturgetreu bemalte Wachsabformung einer krankhaften Veränderung von Organen, Haut und Knochen. Besonders in den Kliniken für Haut- und Geschlechtskrankheiten dienten sie als Lehr- und Studienmittel, weil mit ihnen – anders als mit den organischen Feuchtpräparaten – die akuten Krankheitsphasen in farbenfroher Lebendigkeit festgehalten werden konnten. Die Moulagenkunst entstand in Europa um 1880, nahm ihren Aufschwung mit der explosionsartigen Ausbreitung von »Volkskrankheiten« unter der Wucht der Industrialisierung, und sie hatte ihre Blütezeit durch die ungeheuren Verstümmelungen, Verätzungen und venerischen Krankheiten im Zuge des Ersten Weltkrieges. Die Mouleure, unter denen es unerreichte Könner und Künstler gab, arbeiteten teils freischaffend, teils angestellt in den Krankenhäusern. Die Zusammensetzung der Wachse und das gesamte technische Verfahren waren streng gehütetes Geheimnis. Jeder Mouleur hatte seine eigene, unverwechselbare Rezeptur, die er nur an seinen Schüler weitergab, und der wiederum gab sie an seinen Schüler weiter. So entstanden an den Kliniken oft große, weithin berühmte Sammlungen, von denen heute nur noch ein Bruchteil existiert und zu sehen ist, wie z. B. in Wien, Zürich oder Breslau. Moulagen wurden aber auch im Gefolge der deutschen Hygienebewegung ab 1900 zur Gesundheitsaufklärung der Bevölkerung eingesetzt. Und da eine Moulage – im Gegensatz zu einer Abbildung – sehr viel Empathie erzeugt, machte man sich ihre abschreckende Wirkung beim Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten zunutze und belehrte zudem über die Früherkennung ihrer Krankheitszeichen.
    Der ODOL-Fabrikant August Lingner (1861–1916) – Gründer des Hygiene-Museums – und der bekannte Dermatologe Eugen Galewsky (1864–1935), der als Jude von den Nazis in den Tod getrieben wurde, waren die wichtigsten Initiatoren dieser populärwissenschaftlichen Kampagnen zur Gesundheitsaufklärung, der sich das Deutsche Hygiene-Museum in Dresden bis heute widmet. Von Anfang an gab es eine eigene Moulagenwerkstatt, deren Schwerpunkt Reproduktion und Verkauf der Moulagen war. Hier gab der exzellente Berliner Moulageur Fritz Kolbow (1873–1946) seiner Schülerin Ella Lippmann (1892–1967) Rezeptur und Technik weiter, und diese gab ihr Wissen an ihre Schülerin Elfriede Walther weiter. Um 1957 ging allgemein die Ära der Moulagen zu Ende. Farbfotografie und Diaprojektor traten an ihre Stelle. Viele Sammlungen, alte Bestände, die den Krieg überstanden hatten, wurden in den Keller verbannt oder vernichtet. So auch die Moulagensammlung der Hautklinik der Berliner Charité, die 1960 eingeschmolzen und zu Kerzen verarbeitet wurde! Die Moulagensammlung des Hygiene-Museums stand zuletzt Anfang der 70er Jahre auf dem Spiel, blieb aber dank einer Anweisung des DDR-Gesundheitsministers Dr. Mecklinger verschont. Zur gleichen Zeit wurde die Züricher Mouleurin Elsbeth Stoiber angewiesen, alle dermatologischen Moulagen des Unispitals Zürich einzuschmelzen. Diesen Auftrag verweigerte sie und rettete so die Sammlung. 1998 lüftete sie das Geheimnis der Wachsrezeptur, das seit 1908 von einer Kolbow-Schülerin und deren Nachfolgerinnen strengstens bewahrt wurde. Inzwischen erleben die Moulagen allgemein wieder eine Renaissance, in Zürich sind sie sogar schon Bestandteil des Curriculums. Es leben heute nur noch zwei große Altmeisterinnen der Moulagenkunst, Elsbeth Stoiber und Elfriede Walther.
    Frau Walther lebt in Dresden, nahe dem Großen Garten in einem unauffälligen, gepflegten Mietshaus. Sie empfängt uns an ihrer Wohnungstür im ersten Stock und bittet uns ins Wohnzimmer. Es riecht nach Harz. Den Weihnachsbaum hat sie ganz für sich alleine geschmückt. Der Raum wirkt friedvoll, so ohne Fernsehgerät und das ganze sonst übliche Equipment, das sie nicht benötigt. Über dem Perserteppich scheint noch die Atmosphäre jener langsamer verstreichenden Zeit der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zu schweben; die bürgerliche Ostvariante. In den Bücherschränken stehen Bildungsliteratur und großformatige Kunstbände. Es gibt u. a. eine kleine Skulptur, einige Sammelstücke aus Meißner Porzellan, und an der Wand prangt ein Ölbild, das gebundene Ähren zeigt. An der

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