Der Ausloeser
Fremde und hob die Waffe. »Bitte nicht schreien.«
Die Welt verdichtete sich zu einem langen, dunklen Korridor, als würde der Lauf der Pistole mit der Anziehungskraft eines schwarzen Lochs den Raum krümmen.
»Los, hilf ihm auf.«
Jenn starrte erst auf die Waffe, dann in das Gesicht des Fremden.
»Jennifer.« Ein eiskalter Befehlston. »Du hilfst deinem Freund jetzt auf und bringst ihn die Treppe hoch.«
Ohne weiter darüber nachzudenken, bückte sie sich, fasste Ian unter den Schultern und zerrte ihn hoch. Erstaunlich, wie dünn sein Körper wirkte, fast schon hohl. Er roch nach Galle.
»Los, die Treppe hoch.«
»Wer …«
»Sofort.«
Statt zu schreien oder wegzulaufen, statt irgendeinem ihrer Instinkte nachzugeben, drehte sie sich um und ging hoch. Die Umgebung verschwamm zu einem feuchten Schemen, der Boden floss in die Wände und weiter in die Decke. Wie aus weiter Ferne registrierte sie, dass ihre Gedanken rebellierten – sie sollte sich wehren, kämpfen oder fliehen oder wenigstens die Treppe raufrennen, in die Wohnung und die Tür absperren. Doch sie konnte nicht, sie hatte zu viel Angst, und hätte sie Ian losgelassen, wäre er hingefallen. Deshalb konnte sie nur hoffen, dass vielleicht ein Nachbar auftauchen würde, irgendwer, der die Polizei verständigen …
Und schon standen sie vor der Tür.
»Aufmachen«, sagte der Mann.
»Es ist abgesperrt. Der Schlüssel ist in meiner Tasche.«
»Dann hol ihn raus. Aber langsam.«
Blanke Panik fraß sich durch ihre Adern. Sie warf einen Blick über die Schulter – der Fremde stand knapp zwei Meter hinter ihr. Zu weit, um sich auf ihn zu stürzen, zu nah, um die Tür zu öffnen, in die Wohnung zu schlüpfen und sich dort zu verbarrikadieren. Das heißt, vielleicht könnte sie es schaffen. Aber nur, wenn sie Ian opferte. »Kannst du allein stehen?«
Ian keuchte noch einmal und nickte. Also lehnte sie ihn an die Wand, riss sich die Tasche von der Schulter und wühlte darin herum. Wo war der verdammte Schlüsselbund? Ihre Hände zitterten so stark, dass die Tasche aus ihren Fingern rutschte und mit der Öffnung nach unten auf dem Boden landete. »Scheiße!« Sie ging in die Knie. Eine Lawine aus alltäglichen Gegenständen ergoss sich auf die Fliesen: eine Sonnenbrille, ein Lippenpflegestift, eine Tablettendose, ihr Geldbeutel, ihre Wimperntusche, ihr Handy, ein Blatt mit einer hübschen Form und schließlich ihre Schlüssel. Jenn sammelte sie auf, schob den richtigen ins Schloss und sperrte auf.
Kaum hatte sie die Tür einen Spaltbreit geöffnet, spürte sie einen Stoß im Rücken. Sie stolperte nach vorne, hielt sich gerade so auf den Füßen und knallte mit dem Schienbein gegen die Kante des Beistelltischchens. Der Schmerz vibrierte durch ihr ganzes Bein; hätte sie sich nicht mit einer Hand an der Wand abgestützt, wäre sie hingefallen. Der Nagellack, den sie heute Morgen noch benutzt hatte, kullerte auf den Boden.
Nagellack. Daneben lagen mehrere Nagelfeilen. Und ihre Nagelschere.
»Komm doch rein, Ian.«
Ehe sie es sich anders überlegen konnte, griff sie zu und ließ die Nagelschere in der rechten Hand verschwinden – doch als sie sich umdrehte, blickte sie in den Lauf der Pistole. Er schwebte knapp zehn Zentimeter vor ihrem Gesicht, ein unscharfer, schwarzer Schatten.
Ihr Blut gefror zu Eiswürfeln.
Währenddessen taumelte Ian in den Flur, immer noch vor Schmerz zusammengekrümmt. Sein Gesicht war blass, eine Mischung aus Gelb und Grün, er keuchte bei jedem Atemzug. Als er auf die Couch sackte, entdeckte sie braune Flecken auf seinem Hemd. Erbrochenes.
»Ian.« Nach einem letzten, vorsichtigen Blick auf den Fremden ging sie zu ihrem Freund. Es war ein gutes Gefühl, das kühle Metall in der Hand zu spüren. Eine kleine Schere, aber ziemlich scharf. Immerhin. Neben Ian kniete sie sich hin. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er nickte, doch seine Augen sprachen eine andere Sprache. Verstohlen sah sie sich um – der Fremde runzelte die Stirn, marschierte zur Tür und kehrte den Inhalt ihrer Handtasche mit dem Fuß in die Wohnung. Ihr Lippenstift rollte über den Boden. Schnell legte sie Ian die linke Hand aufs Knie und öffnete die rechte, gerade lange genug, damit er erkennen konnte, was sie darin verbarg. Ian riss die Augen auf.
Im nächsten Moment hörte sie, wie die Tür ins Schloss fiel. Sie musste all ihre Kraft zusammennehmen, um die aufblitzende Panik zu unterdrücken und halbwegs ruhig zu weiterzuatmen.
»Aber, aber«, meinte
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