Der Ausloeser
der Fremde. »Setz dich doch, Schätzchen.«
»Ich heiße Jenn.«
»Ich weiß.« Er deutete auf die Couch. »Komm, setz dich zu deinem Freund.«
Stattdessen stand sie auf. Und blieb stehen.
»Nicht schlecht. Du hast Mut, das gefällt mir. Aber du musst wissen, ich bin Feminist. Ich glaube nicht an das sogenannte schwache Geschlecht. Mir ist es egal, ob ich einen Mann oder eine Frau schlage.«
Sie zögerte. Alles war so schnell gegangen, die letzten Minuten waren zu einem einzigen Moment verschmolzen. Als sie nach und nach begriff, was geschehen war, mischte sich Wut in ihre Panik. Das hier war ihre Wohnung, dieser Typ war in ihr Reich eingedrungen, einfach so, bloß weil er eine Pistole hatte. Er hatte ihren Freund geschlagen, und jetzt hielt er sie in ihrem eigenen Wohnzimmer gefangen. Aber nicht mit ihr. Sie war kein wehrloses Frauchen aus einer x-beliebigen Vorabendserie, und sie hatte die Schere, keine besonders eindrucksvolle Waffe, aber wenigstens etwas. Vielleicht sollte sie sofort handeln, solange sie noch auf den Beinen war.
Da hob der Mann die Pistole. Ihre Knie wurden weich, und sie ließ sich so langsam wie möglich auf die Couch sinken.
»Sehr gut. Und jetzt schiebst du die Hände unter die Oberschenkel, mit den Handflächen nach unten. Das gilt übrigens für euch beide.«
Ian sah sie an. In seinen Augen lag eine Frage, auf die sie keine Antwort wusste. Nach ein paar Sekunden folgte er dem Befehl des Fremden. Jenn tat es ihm gleich.
»Hervorragend.« Er steckte die Pistole hinten in den Hosensaum. »Das klappt ja wunderbar.«
»Und jetzt? Was wollen Sie von uns?«
»Nichts, nichts. Wir drei werden jetzt einfach ein Weilchen zusammensitzen.«
»Warum?« Immer schön weiterreden. Wer weiß, vielleicht wird er mit der Zeit unvorsichtig. Dann kannst du …
Ja, was sollte sie dann tun? Dem Typen mit einem eingesprungenen Drehkick die Waffe aus der Hand schlagen, sich in Jet-Li-Manier unter seinem Arm abrollen, die Pistole aufheben und abdrücken? Kickboxen im Fitnessstudio war noch lange keine Nahkampfausbildung. Sie hatte schon so manchen Boxsack verprügelt, aber Boxsäcke schlugen nicht zurück.
Wer war dieser Kerl? Was wollte er von ihnen?
Die Antwort auf die erste Frage lag auf der Hand: Er arbeitete für Victor. Seine gelassene Haltung, diese Ruhe und unterschwellige Brutalität, die er ausstrahlte, die Selbstverständlichkeit, mit der er Ian geschlagen hatte. Keine Frage, das war ein Profi.
Aber was für ein Profi?
Eiseskälte kroch ihr Rückgrat hinauf, denn auch hier lag die Antwort auf der Hand. Allerdings warf die Antwort eine ganz andere Frage auf: Nagelschere hin oder her – was konnten ein Wertpapierhändler und eine Mitarbeiterin eines Reisebüros gegen einen Profikiller ausrichten?
Mitch trat einen Schritt vor. Ganz hinten am Ende der Bar stand ein Mann, zu weit entfernt, um sein Gesicht zu erkennen. »Alex?«
»Der Kandidat hat hundert Punkte.« Die Gestalt griff nach einem Longdrink und nahm einen tiefen Schluck. Eis klimperte in der Stille des leeren Restaurants. »Willst du auch einen?«
Vorsichtig wagte Mitch sich näher heran. Auf dem Hinweg hatte er alle möglichen dramatischen Szenarien durchgespielt – wie Alex und er hinten aus dem Fenster sprangen, während Victor vorne vorfuhr, und andere ähnliche Konstellationen. Jetzt, als er vor seinem alten Freund stand, wusste er plötzlich nicht mehr, was er sagen sollte. Er hatte den Faden verloren, teils wegen der unerwarteten Situation, teils wegen des seltsamen Untertons in Alex’ Stimme: Trauer und Kapitulation, vermischt mit einer unbestimmten Drohung. »Nein, ich …«
»Sag mal, wo sind denn die anderen abgeblieben?«
»Die sind auf dem Weg zur Polizei.«
Ein abgehacktes, verbittertes Lachen. »War ja klar. Wenn die Kacke am Dampfen ist, scheißt man gleich noch auf seine alten Freunde. Mitgehangen, mitgefangen.«
»Was redest du denn da?« Er trat einen Schritt vor.
»Was denkst du, wie oft haben wir uns hier getroffen?« Alex stützte sich mit seinen kräftigen Armen auf die Bar. »Hundertmal? Noch öfter? Wie oft haben wir vier hier gesessen?« Er klopfte auf das polierte Holz. »Genau hier. An unserem Stammtisch.«
Mitch erstarrte. Auf der Theke, ordentlich aufgereiht, standen die vier Plastikflaschen, und daneben eine offene Flasche Wodka. Mein Gott.
»Also, was willst du von mir?«, fragte Alex. »Willst du mich von meinem teuflischen Plan abbringen, oder
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