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Der Ausloeser

Der Ausloeser

Titel: Der Ausloeser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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Einsamkeit. Manchmal denk ich mir, ich bin lieber allein, als jemand zu sein, der ich gar nicht sein will.« Sie musste an Brians altes Apartment denken, an den ewigen Zigarettengestank, an die vielen Wochenenden, die er vor der Glotze verbracht hatte. Samstags war er immer direkt aus dem Bett aufs Sofa gekrochen, um Football zu schauen. Am Anfang hatte sie das noch irgendwie süß gefunden – bis sie begriffen hatte, dass ihre Zukunft genauso aussehen würde wie ihre Gegenwart, dass Brian zwar ein netter Kerl war, aber dass er immer exakt derselbe nette Kerl bleiben würde. Dass er sich nie ändern würde, dass er sich gar nicht ändern wollte. Wenn es nach ihm ging, würde er die nächsten fünfzig Jahre samstags Football gucken, Sonntagvormittag Sex haben und nach der Arbeit Tiefkühlpizza essen. Bis sie schließlich mehr oder weniger gleichzeitig tot umfallen würden, womöglich kurz nach einem Besuch von den Enkeln. Kurz darauf hatte sie angefangen, bei jeder Gelegenheit Streit zu suchen.
    Mitch sah sie an – und um überhaupt etwas zu sagen, meinte sie: »Weißt du, was ich richtig gerne mache? Manchmal, wenn ich heimkomme, hol ich mir einen Drink und verzieh mich mit ein paar Zeitschriften ins Bett. Also keine schlauen Zeitschriften wie   Newsweek   oder so, sondern irgendeinen Mist, irgendwelche bescheuerten Klatschblätter. Dann lieg ich im Bett, nippe an meinem Wodka und informiere mich über Britneys neueste Ausraster.«
    Er lachte. »Echt?«
    »Ja. Aber glaub ja nicht, ich würde das Ganze ernst nehmen. Okay, die Klamotten und so schau ich mir schon gerne an … Aber das ist eigentlich auch bloß eine Ausrede. Ich weiß, es klingt bescheuert – warum interessiere ich mich für Leute, die ich nie kennenlernen werde und auch gar nicht kennenlernen will? Wahrscheinlich fühl ich mich ein bisschen wie ein Voyeur, und das macht mich irgendwie an.«
    »Das ist ja auch in Ordnung.« Er trank einen Schluck Wodka. »Wenn ich ehrlich bin, weiß ich ganz genau, was du meinst. Im Hotel gibt es einen großen Balkon im zweiten Stock mit einem guten Blick über die Lobby. Dort verbringe ich ab und zu meine Pausen. Dann stell ich mich ans Geländer und beobachte die Leute.«
    »Wobei?«
    »Ich … beobachte sie einfach. Zweifach geschiedene Vertriebsleiter, die in der Lounge Kolleginnen anbaggern. Touristen mit gezücktem Fotoapparat, die sich nach dem Weg zum Navy Pier erkundigen. Ehepaare, die schon so lange zusammen sind, dass sie kein Wort mehr miteinander reden, die gar nicht mehr reden müssen. Und wenn man lange genug zuschaut, hat man das Gefühl, dass alle irgendetwas vermissen. Muss wohl an ihrem Blick liegen. Als hätten sie alle irgendwas verloren, als wären sie alle auf der Suche.«
    »Vielleicht nach der wahren Liebe?«
    Er lachte. »Ich hab mal ein Gedicht gelesen, da hieß es: ›Das Herz verlangt mehr, als das Leben bieten kann.‹ Ich denke, da ist was Wahres dran. Alle wollen etwas, irgendetwas. Aber wir wären schon zufrieden, wenn wir das Gefühl hätten, dass das Ganze einen Sinn ergibt. Dass es nicht nur darum geht, jeden Morgen aufzustehen und die Zeit totzuschlagen.«
    »Und wenn du auf dem Balkon stehst, siehst du da Leute, die aussehen, als hätten sie dieses Gefühl?«
    »Kaum.«
    »Aber manchmal schon?«
    »Ja, manchmal.«
    Ihre Blicke trafen sich, lösten sich wieder voneinander. Ohne Vorwarnung flammte ein Bild vor ihren Augen auf – der Lichtblitz, der aus Mitchs Hand geschossen und in den Mann auf dem Boden gefahren war, als hätte sich nichts als Licht in sein Herz gebohrt und einen kreisrunden Fleck auf seinem Hemd erblühen lassen.
    Sie stellte den Drink ab und barg das Gesicht in den Händen. Ihr Herz schmerzte, als wäre es zwischen ihren Rippen eingequetscht. Sie presste die Handflächen gegen die Wangen und grub die Nägel tief in die Stirn.
    »Hey«, sagte er mit sanfter Stimme. Sie hörte sein Glas auf der Theke klimpern, und im nächsten Moment spürte sie seine Hände auf den Schultern. Die Wärme tat gut.
    »O Gott.« Als sie aufschaute, war sie überrascht, ihn so nah vor sich zu sehen – er neigte den Kopf und blickte ihr mit besorgtem Gesichtsausdruck in die Augen. »Was haben wir nur getan?« Ihre Stimme bebte.
    »Was wir tun mussten.«
    »Wie kannst du das nur sagen? Wie kannst du dich da hinstellen und, und … Du, du hast …«
    In seinen Augen veränderte sich etwas, ein innerlicher Rückzug, gefolgt von einer raschen Rückkehr, wie ein Wesen aus der Tiefsee,

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