Der Außenseiter
gestritten.«
Sasha wandte sich demonstrativ wieder ihren Aufzeichnungen zu. »Aber wann soll er es getan haben, Mrs. Fletcher? Seine Mutter hat ihm für den Montag und den Dienstag ein Alibi gegeben, aber Sie haben, wie Sie sagen, am Dienstagnachmittag Blut an Grace’ Fenster gesehen. Das lässt darauf schließen, dass jemand anderes Grace getötet hat.«
»Wieso denn? Er kann es leicht am Montagabend oder in der Nacht getan haben.«
»Seiner Mutter zufolge war er zu Hause. Sie sagte, sie habe die ganze Nacht wachgelegen und sich wegen seiner Arbeitsmöglichkeiten den Kopf zerbrochen.«
»Sie sprechen von Wynne?«
»Ja.«
»Die hat doch gelogen, dass sich die Balken gebogen haben.«
»Dieser Ansicht war die Anklage nicht. Deswegen 630
behauptete sie ja, Grace sei an dem fraglichen Mittwoch getötet worden.«
»Das ist nicht mein Problem«, erklärte Louise und beugte sich vor, um ihre Zigarette auszudrücken. »Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und ich habe sie Ihnen gesagt. Wynne war Alkoholikerin – die hat jeden Abend eine halbe Flasche Gin gekippt, weil sie Howard nicht ertragen konnte und ihre Arbeit genauso wenig –, und ich hab noch nie von einer chronischen Säuferin gehört, die nachts wachgelegen und sich den Kopf zerbrochen hat. Bei Brackham & Wright wussten es alle. Sie hatte die Schicht nach der von meinem Vater, und manchmal war sie so fertig, wenn sie zur Arbeit kam, dass sie an ihrem Arbeitstisch zusammengeklappt ist. Was glauben Sie denn, warum die solche Angst hatte, dass sie fliegt?« In den hellen Augen leuchtete plötzliche Erheiterung. »Fragen Sie David Trevelyan. Der wird Ihnen bestätigen, dass es stimmt. Alle wissen, dass diese ganze Howard-Geschichte für sie ein Glück war. Sie kriegte das Geld aus dem Verkauf von Grace’ Haus und hatte ihren nichtsnutzigen Sohn endlich los.«
Sasha klopfte mit ihrem Stift leicht an den Bügel ihrer Brille und starrte zu ihrem Block hinunter.
»War’s das? Sind Sie fertig?«
»Nur noch zwei Fragen, Mrs. Fletcher. Sie sagten, dass Cill Ihrem Vater von der Vergewaltigung erzählt habe – aber Ihrem Bruder zufolge waren Sie 631
beide so zerstritten, dass sie nicht mehr zu Ihnen nach Hause kam.« Sie hob den Kopf und lächelte.
»Wann soll sie eine Gelegenheit gehabt haben, mit ihm zu sprechen?«
Louise antwortete nicht gleich. »Wahrscheinlich hat sie ihn angerufen, als meine Mutter in der Arbeit war. So was hat sie dauernd getan.«
»So einfach war das sicher nicht, wenn sie den ganzen Tag in der Schule war. 1970 gab es noch keine Handys.« Keine Antwort. »Und wenn es nicht Cill war, bleiben nur zwei Personen, die es ihm gesagt haben könnten: Sie oder Grace.«
»Warum nicht mein Bruder?«
»Er hätte nicht gesagt, dass Cill es verdient hat, Mrs. Fletcher, Grace hingegen vielleicht schon, wenn Sie ihr, als sie die frischen Anziehsachen holten, gleich Ihre Version eingetrichtert haben.«
Angesichts Louises offen gezeigter Verständnis-losigkeit hielt sie kurz inne. »Ich versuche zu verstehen, wieso Ihr Vater Sie am Samstagmorgen gedrängt hat, der Polizei von der Vergewaltigung zu erzählen, nachdem ein paar Stunden vorher David Trevelyan ihm eins auf die Nase gegeben hatte, weil er gesagt hatte, Cill sei ein Flittchen und hätte es nicht anders verdient. Die meisten Männer – besonders Männer mit einer ungesunden Vorliebe für kleine Mädchen – würden nicht so handeln. Sie würden sich nach Kräften bemühen, das Polizeiinteresse zu dämpfen.«
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Sie zündete sich die nächste Zigarette an. »Er hat immer gesagt, sie wäre ein Flittchen.«
»Erst nach der Vergewaltigung. Vor der Vergewaltigung wollte er sie ständig auf den Schoß nehmen. Das hat Sie sicher eifersüchtig gemacht.«
»Weshalb sollte es?«
»Er war ein Kinderschänder, Mrs. Fletcher, und Sie waren seine kleine Prinzessin. Hat er seine Enttäuschung zu offen gezeigt, als Cill plötzlich nicht mehr kam? Was haben Sie zu ihm gesagt?
Dass ihr harter Sex mit Roy Trent lieber sei, als sich von einem schmuddeligen alten Mann begrapschen zu lassen?«
Eine Sekunde lang starrte Louise sie an. »Und wenn?«, versetzte sie dann. »Es ändert nichts.«
»Es ändert alles, Mrs. Fletcher. Es beweist, dass Sie lügen und auf Ihre Freundin eifersüchtig waren. Und das verleiht der Version Ihres Bruders Glaubwürdigkeit.« Sie holte Atem. »Ich kann mir vorstellen, wie wütend es Sie gemacht hat zu sehen, dass jeder, dem Sie begegneten – ob Mann oder
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