Der Außenseiter
er tagsüber geschlafen haben.« Hilda Brett kniff ärgerlich die Lippen zusammen. »Wir hatten mehrere hartnäckige Schulschwänzer, vor allem unter den Jungen. Es war wirklich ein Problem. Ohne die Unterstützung der Eltern konnten wir kaum etwas dagegen tun.«
»Und neunundneunzig Prozent der Lehrer drück-
ten lieber beide Augen zu, weil es ihnen nur recht 358
war, diese Unruhestifter loszuwerden«, warf Jonathan leichthin ein. »Die Arbeit ist so schon schwer genug, da will man sich nicht noch mit Undiszipliniertheit und Desinteresse herumschlagen müssen.«
Die alte Frau lachte kurz und erheitert. »Sprechen Sie von den Schülern oder ihren Eltern, Dr.
Hughes? Eines habe ich nämlich festgestellt, je undisziplinierter und desinteressierter die Eltern, desto fauler und aufsässiger die Kinder. Viele unserer Schulversager waren schon hoffnungslose Fälle, bevor sie zur Schule kamen. Am Ende bleibt einem nichts anderes übrig, als die Verantwortung an Polizei und Jugendgerichte abzugeben.«
»War Roy Trent einer dieser hoffnungslosen Fälle?«
Sie sah ihn mit gekrauster Stirn an. »Ich erinnere mich an den Namen, aber ich weiß nicht, warum.«
»Dunkles Haar, mittelgroß – der Vater hatte einen Zeitungsladen in der Highdown Road. Wir glauben, dass Louise ihn als einen von Priscillas Vergewaltigern beschrieben hat.«
Ihre Augen weiteten sich, als die Erinnerung in einem Schwall zurückkehrte. »Du meine Güte, Sie sind aber gut informiert. Roy Trent, Micky Hopkinson und Colley Hurst.« Sie wartete, während George mitschrieb. »Louise behauptete damals steif und fest, sie wüsste nicht, wer die Jungen gewesen seien, und könne nur eine grobe 359
Beschreibung geben. Die Polizei kam dann auf diese drei – auf Grund ihrer Vorgeschichten. Sie stritten natürlich alles ab.«
»Waren die drei bei Ihnen an der Schule?«
»Damals nicht. Sie hatten mehrmals die Schule gewechselt, weil sie immer wieder ausgeschlossen worden waren, aber ich weiß nicht, wo sie 1970
angemeldet waren … wenn überhaupt. Soviel ich weiß, war das Jugendamt eingeschaltet gewesen, aber dem Problem war einfach nicht beizukommen. Man hätte sie in eine staatliche Erziehungs-einrichtung stecken sollen, um die Verbindungen zur häuslichen Umgebung abzubrechen – aber nach den Mittelkürzungen auf dem Bildungssektor gab es nur noch wenige spezialisierte Einrichtungen.«
Sie schwieg nachdenklich. »Ich kann mich nicht mehr erinnern, in was für Verhältnissen Micky und Colley damals lebten, aber ich weiß, dass Roys Vater wieder heiratete und mit dem Jungen nichts mehr zu tun haben wollte. Es war grausam dem Kind gegenüber und hat dem armen Jungen gar nicht gut getan.«
»Man hat uns berichtet, dass einer von ihnen rotblondes Haar hatte«, sagte George.
»Colley Hurst«, bestätigte sie.
»Wo hat er gewohnt?«
Hilda Brett schloss kurz die Augen, als blickte sie durch einen Zeittunnel zurück. »Ich glaube, die Jungen wohnten alle drei am Colliton Way. Da 360
lebten lauter schwierige Familien. Die meisten unserer schlechten Schüler kamen von dort.«
George warf Jonathan einen Blick zu. »Ich hoffe, da klingelt’s bei Ihnen.«
Er schüttelte zweifelnd den Kopf. »Sollte es?«
»Es steht in Ihrem Buch«, sagte sie mit gutmütigem Spott, »und zeigt, dass es wieder eine örtliche Übereinstimmung gibt. Wynne und Howard Stamp
wohnten am Colliton Way Nummer 48.«
Hilda Brett war von dieser Tatsache ebenso fasziniert wie George. »Man fragt sich, wieso die Polizei sich so schnell auf Howard Stamp einschoss«, sagte sie. »Wenn ich mich recht erinnere, wurde er unmittelbar nachdem der Leichnam gefunden worden war, vorläufig festgenommen.«
»Mehrere Zeugen sahen ihn aus Grace Jefferies’
Haus laufen«, erklärte George. »Er besuchte seine Großmutter regelmäßig, daher kannte ihn jeder, und als er gestand, brauchte die Polizei nicht weiter zu suchen.«
»Aber Sie glauben nicht an das Geständnis?«
»Nein. Dr. Hughes und ich glauben, dass es erzwungen wurde. Was er zu seiner Verteidigung vor-brachte, passt weit besser zu den Fakten. Erinnern Sie sich noch, was er damals sagte?«
»Nur, dass seine Großmutter bereits tot gewesen sei, als er sie fand.«
George nahm ein Exemplar von Kranke Seelen aus ihrem kleinen Koffer. »Das ist das Buch von 361
Dr. Hughes. Kapitel zwölf enthält Howard Stamps Geschichte. Vielleicht möchten Sie es lesen. Es ist eine wohldurchdachte Arbeit, die Fehler in der Beweisführung der
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