Der Azteke
besonderes sauberes Skelett, hier und da hingen noch Fetzen rohen Fleisches daran –, benutzten sie irgend etwas, vielleicht eine Gerte, die sie hineinsteckten, um sein Tepúli aufzurichten. Dieser schaurige Kadaver wurde in den Irrgarten getragen, während Jadestein Puppe noch mit ihrem Priester allein war.
Mitten in der Nacht und in der Mitte des Irrgartens kam das Mädchen wieder zu sich; sie stellte fest, daß sie vollkommen nackt und ihr Tipili gepfählt war wie in glücklicheren Zeiten, aufgespießt von einem steifen männlichen Organ. Doch ihre geweiteten Pupillen müssen sich rasch an das blasse Mondlicht gewöhnt haben, so daß sie das schaurige Ding erkannte, welches sie umfangen hielt.
Was danach geschah, kann man nur erraten. Ganz gewiß riß Jadestein Puppe sich entsetzt los und rannte schreiend von ihrem letzten Liebhaber fort. Sie muß in den Irrgarten hinein geflohen sein, immer und immer wieder, da die gewundenen Pfade sie ständig wieder zurückbrachten zum Kopf, dem Knochengerüst und dem aufrecht stehenden Tepúli des verstorbenen Herrn Freude. Und jedesmal, wenn sie wieder auf ihn stieß, muß sie ihn mehr von Ameisen, Fliegen und Käfern bedeckt vorgefunden haben. Zuletzt muß er dermaßen von durcheinander wimmelnden Aasfressern bedeckt gewesen sein, daß es für Jadestein Puppe ausgesehen haben mag, als ob der Leichnam sich regte in dem Versuch, sich zu erheben und sie zu verfolgen. Wie oft sie davonlief, und wie oft sie gegen die unnachgiebigen Dornenhecken prallte, und wie oft sie es erlebte, daß sie über das Aas des Herrn Freude fast gestolpert wäre, wird niemand je erfahren.
Als der Gärtner sie am Morgen herausholte, konnte von Schönheit bei ihr keine Rede mehr sein. Ihr Gesicht und ihr Körper waren von den Dornen blutig gekratzt und zerrissen. Die Fingernägel waren ausgerissen. Kahle Stellen auf ihrer Kopfhaut zeigten, wo Strähnen ihres Haares ausgerissen waren, und ihre Pupillen waren nur mehr winzige, kaum sichtbare Punkte in ihren starr vorquellenden Augen. Ihren Mund hatte sie in einem schweigenden Schrei aufgerissen. Jadestein Puppe war ihr Leben lang von eitlem Stolz auf ihre Schönheit erfüllt gewesen, daß sie außer sich gewesen wäre und sich gedemütigt gefühlt hätte, in einem so häßlichen Zustand gesehen zu werden. Doch jetzt konnte es ihr gleichgültig sein. Irgendwann in der Nacht und irgendwo im Irrgarten war ihr entsetztes und bis zum Hals hinauf klopfendes Herz zersprungen.
Als alles vorüber war und Cozcatl und ich aus unserem Arrest entlassen wurden, erklärten die Wachen uns, wir dürften weder am Unterricht teilnehmen, noch uns unter unsere Bekannten im Palast mischen und mit ihnen reden, und ich solle überdies auch nicht an meine Schreibarbeit im Saal des Staatsrates zurückkehren. Wir sollten abwarten, uns so unauffällig wie möglich verhalten, damit der Verehrte Sprecher entscheiden könne, wohin wir in die Verbannung geschickt werden sollten.
So verbrachte ich ein paar Tage mit nichts anderem, als am Seeufer spazieren zu gehen, Steine vor mich hin zu stoßen, Mitleid mit mir selbst zu haben und den Ehrgeiz zu beklagen, welcher mich beflügelte, als ich zuerst in dieses Land gekommen war. An einem dieser Tage war ich so sehr in Gedanken versunken, daß ich weit vom Palast entfernt von der Dämmerung überrascht wurde und mich beeilen mußte, um noch vor Einbruch der Nacht wieder zurück zu sein. Auf halbem Wege zur Stadt stieß ich auf einen Mann, der auf einem Felsen saß und der noch nicht dagesessen hatte, als ich zuvor vorbeigekommen war. Er sah nicht wesentlich anders aus als die anderen Male, da ich ihm begegnet war: reisemüde, mit bleicher Haut und die Gesichtszüge verdunkelt von einer Schicht des Alkali-Staubs am Seeufer.
Nachdem wir uns höflich begrüßt hatten, sagte ich: »Wieder kommt Ihr in der Dämmerung, Herr. Kommt Ihr von weither?«
»Ja«, erklärte er trübsinnig. »Aus Tenochtítlan, wo Kriegsvorbereitungen getroffen werden.«
Ich sagte: »Das klingt ja so, als ob es um einen Krieg gegen Texcóco ginge.«
»Bis jetzt ist er noch nicht erklärt worden, aber so wird es sein. Der Verehrte Sprecher Ahuítzotl ist endlich fertig mit dem Bau der Großen Pyramide und plant eine Einweihungszeremonie, großartiger und eindrucksvoller als je zuvor, und daher braucht er viele, viele Gefangene, um sie zu opfern. Deshalb wird er Texcála wieder einmal den Krieg erklären.«
Das wollte mir nicht sonderlich ungewöhnlich
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