Der Azteke
den Cañon auf und ab oder die Cañonwände hinauf. Die Männer trieben dabei für gewöhnlich eine Kugel vor sich her, eine geschnitzte und sorgfältig geglättete runde Kugel aus hartem Holz, groß wie ein Männerkopf. Die Frauen hingegen trieben für gewöhnlich einen kleinen Reifen aus geflochtenem Stroh vor sich her, wobei jede Frau einen kleinen Stecken in der Hand hielt, mit welchem sie den Reifen im Laufen weiter vorantrieb, und die anderen Frauen liefen hinterher, ihn erst einzuholen und dann als nächste weiterzutreiben. Diese begeisterte und unablässige Betätigung kam mir völlig sinnlos vor, doch Tes-disóra erklärte:
»Zum Teil ist das gute Laune und Lebenslust und schiere Energie, doch es ist mehr als das. Eine endlose Feier mit welcher wir durch körperliche Übung und vergossenen Schweiß unseren Göttern Ta-tevari, Ka-laumari und Ma-tinieri huldigen.«
Mir fiel es schwer, mir einen Gott vorzustellen, welcher sich von Schweiß statt von Blut ernährte, aber diese Rarámuri haben diese drei, welche Tes-disóra nannte: in eurer Sprache wären das Großvater Feuer, Mutter Wasser und Bruder Wild. Vielleicht gibt es in ihrer Religion noch andere Götter, doch das waren die einzigen, von denen ich je hörte. In Anbetracht der schlichten Bedürfnisse der waldbewohnenden Rarámuri, meine ich, genügen diese drei vermutlich.
Tes-disóra sagte: »Unser ständiges Laufen beweist den Schöpfer-Göttern, daß die Menschen, welche sie geschaffen haben, immer noch lebendig sind – und dankbar dafür, es zu sein. Außerdem hält es unsere Männer instand, die Härten der Jagd zu ertragen, und des weiteren ist es eine gute Übung für die Spiele, deren Zeuge du sein – oder an denen du teilnehmen wirst. Aber auch diese Spiele selbst sind nichts weiter als Übungen.«
»Ja«, sagte ich seufzend, denn ich fühlte mich allein schon durch das viele Reden über soviel Körperbewegung ermattet, »könntest du mir bitte sagen, Übung wofür?«
»Für die richtigen Wettläufe, selbstverständlich. Die Ra-rajipuri.« Er schmunzelte, als er mein Gesicht sah. »Du wirst schon sehen. Das bildet jedesmal den großartigen Abschluß aller Feierlichkeiten.«
Das Tes-güinápuri-Fest begann am nächsten Tag. Das ganze Dorf versammelte sich vor dem Holzhaus am Fluß und wartete darauf, daß der Si-ríame hervorkomme und befehle, mit dem Fest zu beginnen. Alle trugen ihre schönsten und bunt geschmückten Gewänder: die meisten Männer Umhänge und Schamtücher aus Hirschleder, die Frauen Röcke und Blusen aus demselben Material. Manche von den Dorfbewohnern hatten sich das Gesicht mit Punkten und geschlängelten Streifen aus leuchtendem Gelb gefärbt, und viele trugen Federn im Haar, wiewohl die Vögel in diesen nördlichen Regionen keine besonders eindrucksvollen Federn haben. Etliche der älteren Jäger von Guagüey-bo schwitzten bereits, denn sie trugen die Trophäen ihrer Heldentaten: knöchellange Roben aus Berglöwenfell oder schweren Bärenfellen oder dicke Decken des Dickhorn-Bergschafs.
Der Si-ríame trat aus dem Haus, vollständig gekleidet in schimmernde Jaguar-Felle, und hielt einen Stab mit einem Knauf aus reinem, unbearbeitetem Silber in der Hand; ich war dermaßen überwältigt, daß ich meinen Topas ans Auge hielt, um mich zu vergewissern, daß ich mich wirklich nicht irrte. Da ich gehört hatte, der Häuptling sei Weiser, Zauberer, Richter und Arzt zugleich, hatte ich selbstverständlich angenommen, diese Leuchte in der Gestalt eines altehrwürdigen und ernstgesichtigen Mannes zu sehen. Es war jedoch kein Mann, und dazu weder alt noch besonders ernstgesichtig. Sie war nicht älter als ich, höchst ansprechend und noch schöner durch ihr warmherziges Lächeln.
»Euer Si-ríame eine Frau?« rief ich, als sie begann, die Festgebete zu intonieren.
»Warum nicht?« sagte Tes-disóra.
»Ich habe noch nie von einem Volk gehört, daß sich lieber von einer Frau als von einem Mann regieren läßt.«
»Unser letzter Si-ríame war ein Mann. Doch wenn ein Si-ríame stirbt, kann jeder andere ausgewachsene Mann oder jede Frau des Dorfes zum Nachfolger gewählt werden. Wir haben uns alle versammelt, viele Jipuri gekaut und sind in Trance verfallen. Wir hatten Visionen, und einige von uns sind völlig durchgedreht, andere in Zuckungen geraten. Doch diese Frau war die einzige, welche vom Götterlicht gesegnet wurde. Zumindest war sie die erste, die wieder zu sich kam und berichtete, sie habe Großvater Feuer, Mutter
Weitere Kostenlose Bücher