Der Azteke
Mapimi und andere Chichiméca haben in all den vielen Schock Jahren diese Wüsten bewohnt und zwar von dieser Stadt und ihrer Pracht reden hören, doch ist keiner von uns ihr annähernd nahe genug gekommen, als daß er auch nur einen flüchtigen Blick darauf hätte werfen können. Nun überlege einmal, Mixtli! Findest du es denn nicht erstaunlich, daß wir Barbaren, die so weit, weit entfernt von eurem Tenochtítlan leben und im Grunde nichts davon wissen, nichtsdestoweniger dasselbe Náhuatl sprechen wie ihr?«
Ich sann darüber nach und sagte: »Jawohl, Häuptling Saft. Ich war überrascht und erfreut darüber, als ich feststellte, daß ich mich mit so vielen Stämmen verständigen konnte, habe jedoch nie innegehalten und weiter darüber nachgedacht, wieso das eigentlich möglich ist. Hast du eine Theorie, die das erklären könnte?«
»Mehr als eine Theorie«, sagte er mit einigem Stolz. »Ich bin ein alter Mann und stamme von einer langen Linie von Vätern ab, die sämtlichst ein hohes Alter erreicht haben. Aber ich und sie, wir sind nicht immer alt gewesen, und in unserer Jugend waren wir auch neugierig. Jeder von uns stellte Fragen und hat die Antworten nicht vergessen, die er darauf erhielt. So kommt es, daß jeder erfuhr, was seine Väter über die Ursprünge unseres Volkes zu berichten wußten, und hat es weitergegeben an seine Söhne.«
»Ich wäre dir außerordentlich dankbar, wenn du mich an diesem Wissen teilhaben ließest, ehrwürdiger Häuptling.«
»Wisse denn«, sagte der alte Saft, »daß in den Legenden von sieben verschiedenen Stämmen die Rede ist – darunter deinen Azteca –, welche vor langer Zeit von Aztlan, dem Ort der Schneereiher, auszogen auf der Suche nach einem angenehmeren Ort, sich dort niederzulassen und zu leben. Diese Stämme waren alle miteinander verwandt, sprachen alle dieselbe Sprache, verehrten alle dieselben Götter und hatten dieselben Sitten und Gebräuche. Lange Zeit hindurch zog dieser bunte Haufen freundschaftlich gemeinsam durch die Lande. Gleichwohl kannst du dir ausmalen, daß es unter so vielen Menschen und auf einer so langen Reise zu Reibungen und zu Zwietracht kam. Viele lösten sich unterwegs von dem Zug – einzelne Familien, ganze Calpúli-Sippen, ja, ganze Stämme. Manche gerieten in Streit mit anderen und gingen ihrer eigenen Wege, andere blieben aus reiner Erschöpfung zurück, manche fanden Gefallen an einem Ort, an dem sie sich gerade befanden, und beschlossen, nicht weiterzuziehen. Heute ist es unmöglich zu sagen, wer wohin zog. In den vielen Schock Jahren, welche seither vergangen sind, haben diese säumigen Stämme sich gespalten und sind die einzelnen Gruppen wiederum ihrer eigenen Wege gegangen. Man weiß, daß deine Azteca immer weiterzogen bis in jenes Land, in welchem heute euer Tenochtítlan steht, und es ist möglich, daß andere auch so weit gewandert sind. Wir jedoch gehören nicht zu ihnen, wir, die wir heute die Chichiméca sind. Deshalb sage ich dies. Als deine Azteca die Wüsten hinter sich brachten, ließen sie keinerlei Vorratslager zurück, später Gebrauch davon zu machen; sie hinterließen überhaupt keine Spur. Sie ließen nichts zurück, nur uns.«
Was er da erzählte, klang durchaus glaubhaft und war nicht weniger beunruhigend als die Behauptung meines früheren Gefährten Fleisch, daß mit der Bezeichnung Chichiméca alle Völker unserer Hautfarbe gemeint seien. Worauf das alles jedoch hinauslief, war, daß ich – statt irgend etwas von möglichem Wert wie etwa die verborgenen Schätze zu finden – nur einen schrecklichen Haufen gefunden hatte, der behauptete, mit mir verwandt zu sein. Diese wenig angenehme Vorstellung wies ich daher rasch von mir und sagte seufzend:
»Trotzdem würde ich gern dahinterkommen, wo dieses Aztlan gelegen hat.«
Häuptling Saft nickte, sagte jedoch: »Das ist weit von hier. Wie ich dir gesagt habe, waren die sieben Stämme schon weit, weit von ihrer Heimat entfernt, als sie anfingen auseinanderzugehen.«
Ich blickte nach Norden, dorthin, wo, wie man mir gesagt hatte, sich nochmals eine schreckliche und grenzenlose Wüste dehnen sollte, und ich stöhnte: »Ayya, dann muß ich also weiter durch diese unwirtliche und verfluchte Ödnis …«
Der alte Mann blickte gleichfalls in diese Richtung, schien leicht verwirrt und fragte: »Warum?«
Ich selbst muß wohl ebenfalls einen verwirrten Eindruck gemacht haben angesichts einer so törichten Frage von einem Mann, den ich für einigermaßen
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