Der Azteke
Er ist kein Gefangener. Das sind nur wir anderen alle. Solange er sich kleinmütig dafür hergibt, ihre Geisel zu sein, wagt kein anderer Mexíca, die weißen Männer auch nur anzuspucken.«
Noch ein anderer sagte: »Motecuzóma hat sich selbst, die stolze Unabhängigkeit der Mexíca und den größten Teil unseres Staatsschatzes ausgeliefert. Wenn es noch lange dauert, bis die Schiffe der weißen Männer eintreffen – wer will sagen, was er dann als nächstes preisgeben wird?«
Und dann sprach einer aus, woran alle dachten: »In der gesamten Geschichte der Mexíca ist noch nie ein Uey-Tlatoáni bei Lebzeiten abgesetzt worden. Nicht einmal Ahuítzotl, als er völlig unfähig war zu regieren.«
»Immerhin ist ein Regent ernannt worden, die Regierungsgeschäfte in seinem Namen zu führen, und das hat durchaus funktioniert, solange die Nachfolge nicht feststand.«
»Cortés könnte es sich in den Kopf setzen, Motecuzóma irgendwann umzubringen. Wer weiß, was in den Köpfen dieser weißen Männer vorgeht? Oder Motecuzóma geht an seinem eigenen Selbsthaß zugrunde. Er sieht ganz so aus, als ob es bald soweit wäre.«
»Jawohl, es könnte sein, daß der Thron bald leer steht. Wenn wir für diesen möglichen Fall Vorkehrungen treffen, hätten wir auch einen Herrscher bereitstehen … falls Motecuzómas Verhalten sich derart entwickelt, daß wir ihn kraft Staatsratsbeschluß absetzen müssen.«
»Darüber sollte insgeheim entschieden und alles in die Wege geleitet werden. Laßt uns Motecuzóma diese Demütigung solange ersparen, bis uns keine andere Wahl mehr bleibt. Auch sollte Cortés nicht der geringste Grund gegeben werden zu argwöhnen, daß seine kostbare Geisel plötzlich wertlos für ihn gemacht werden kann.«
Die Weibliche Schlange wandte sich an Cuitláhuac, der bis jetzt überhaupt noch nichts gesagt hatte, und redete ihn mit seinem Adelstitel an, als er sagte: »Cuitláhuatzin, als Bruder des Verehrten Sprechers wäret Ihr normalerweise der erste Anwärter, welcher bei seinem Tode als Nachfolger in Frage käme. Würdet Ihr den Titel und die Verantwortung eines Regenten annehmen, falls wir in ordentlicher geheimer Beratung übereinkommen, daß eine solche Stellung geschaffen werden sollte?«
Cuitláhuac ging noch ein paar Schritte weiter, runzelte nachdenklich die Stirn und sagte dann: »Es wäre mir entsetzlich, meinem eigenen Bruder die Macht abzunehmen, solange er lebt. Aber in Wahrheit, meine Herren, fürchte ich, daß er im Augenblick nur noch halb lebt und den größten Teil seiner Macht bereits abgegeben hat. Jawohl, wenn und falls der Staatsrat zu dem Schluß kommt, daß das Überleben unseres Volkes davon abhängt, werde ich in jeder Form regieren, welche von mir verlangt wird.«
Wie die Dinge sich entwickelten, bestand kein unmittelbarer Anlaß für den Sturz Motecuzómas oder irgendein anderes drastisches Vorgehen. Ja, über längere Zeit hinweg sah es so aus, als ob Motecuzóma recht gehabt hätte mit seinem Rat, wir alle sollten uns in Geduld fassen und abwarten. Denn die Spanier blieben diesen ganzen Winter über in Tenochtítlan, und, wären sie nicht so auffällig weiß gewesen, wir hätten ihre Anwesenheit womöglich überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Man hätte meinen können, sie wären Leute vom Lande, aber von unserer eigenen Rasse, welche zu Besuch in die große Stadt gekommen waren, um sich die Sehenswürdigkeiten anzusehen und sich friedlich zu amüsieren. Selbst während unserer religiösen Zeremonien verhielten sie sich tadellos. Einige von diesen Feiern, bei denen es nur um Musik, Gesang und Tanz ging, verfolgten die Spanier mit Interesse und manchmal sogar mit Belustigung. Ging es um Riten, bei denen Xochimique geopfert werden mußten, blieben die Spanier diskret in ihrem Palast. Wir Bewohner der Stadt unsererseits duldeten die weißen Männer und behandelten sie zuvorkommend, aber mit Distanz. Infolgedessen gab es den ganzen Winter über keine Reibungen zwischen uns und ihnen, keine unglücklichen Zwischenfälle, ja, es kam nicht einmal mehr zu Zeichen von böser Vorbedeutung.
Motecuzóma, seine Höflinge und seine Ratgeber schienen sich mühelos an den Wechsel der Residenz gewöhnt zu haben, und die Art, wie er die Regierungsgeschäfte führte, schien von der Verlagerung des Regierungsschwerpunkts in gar keiner Weise beeinträchtigt. So wie er und jeder andere Uey-Tlatoáni es immer getan hatten, trat er regelmäßig mit seinem Staatsrat zusammen; er empfing Sendboten
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