Der Azteke
Wir geben nicht vor, Zeugnisse zu haben, welche zurückgehen auf das Erste Götterpaar. Ihr kennt die Legenden. Diese beiden waren die ersten Bewohner der Erde, dann all die anderen Götter, und danach ein Volk von Riesen.« Nachdenklich zog Neltitica an seiner Poquiétl. »Die Legende über die Riesen könnte sogar auf Wahrheit beruhen, wißt ihr. Von einem Bauern ist ein alter verwitterter Knochen ausgegraben worden; er wird noch heute in Texcóco aufbewahrt. Ich habe ihn selbst gesehen, und die Wundärzte behaupten steif und fest, es handele sich um einen Oberschenkelknochen. Dabei ist er so lang, wie ich groß bin.«
Der kleine Poyec lachte voller Unbehagen und sagte: »Da hätte ich aber keine Lust, dem Mann zu begegnen, dessen Oberschenkelknochen das war.«
»Nun«, sagte unser Meister, »Götter und Riesen – darüber sollen die Priester sich den Kopf zerbrechen. Wofür ich mich interessiere, das ist die Geschichte der Menschen, insbesondere der ersten Menschen in diesem Tal, der Menschen, die Städte wie Teotihuácan und Tolan erbauten. Denn alles, was wir haben, ist von ihnen auf uns überkommen. Alles, was wir wissen, haben wir von ihnen gelernt.« Er saugte ein letztes Mal an seiner Poquietl und entfernte das heruntergebrannte Ende aus seinem Picietl-Rohr. »Vielleicht werden wir nie erfahren, warum oder wann sie verschwanden, wenngleich die angekohlten Balken ihrer zerfallenen Gebäude darauf hindeuten, daß sie von Räubern vertrieben wurden. Wahrscheinlich waren es die wilden Chichiméca, das Hunds-Volk. Wir vermögen nur noch wenig von den erhalten gebliebenen Wandgemälden, Schnitzereien und Bilderschriften zu entziffern, und aus keinem dieser Dinge geht hervor, wie auch nur der Name dieses verschwundenen Volkes gelautet hat. All diese Dinge sind jedoch so kunstvoll gearbeitet, daß wir ihre Schöpfer voller Hochachtung Toltéca nennen – Meisterhandwerker – und seit vielen Schock Jahren haben wir uns bemüht, dem, was sie geleistet haben, nachzueifern.«
»Aber«, meinte Poyec, »wenn die Toltéca seit so langer Zeit verschwunden sind, begreife ich nicht, wie wir von ihnen gelernt haben sollen.«
»Weil ein paar von ihnen überlebt haben werden, selbst wenn sie als Volk insgesamt verschwunden sind. Gewiß hat es einige Überlebende gegeben, die sich in den hochgelegenen Bergtälern und in der Tiefe der Wälder verborgen haben. Und diese Toltéca, die nicht untergehen wollten, haben in ihren Verstecken überlebt – ja, möglicherweise sogar einige ihrer Bücher des Wissens aufbewahrt –, in der Hoffnung, ihre Kultur durch ihre Kinder und Kindeskinder weiterzugeben, während diese sich mit Angehörigen anderer Stämme vermischten. Unglücklicherweise waren die einzigen anderen Völker in diesem Gebiet um jene Zeit völlig primitive Stämme: die beschränkten und schwerfälligen Otomi, die leichtfertigen Purempecha und selbstverständlich das ewig und überall vorhandene Hunds-Volk«
»Die Otomi haben es noch nicht einmal bis zur Kunst des Schreibens gebracht. Und die Chichiméca fressen bis auf den heutigen Tag ihren eigenen Kot.«
»Aber selbst unter Barbaren findet sich unter Umständen eine Handvoll besonderer Menschen«, sagte Neltitica. »Wir müssen von der Annahme ausgehen, daß die Toltéca ihre Ehegesponse sehr sorgfältig aussuchten, und ihre Kinder und Kindeskinder desgleichen, so daß sich auf diese Weise wenigstens ein paar hervorragende Familien erhalten haben. Es muß so etwas wie eine heilige Familienverpflichtung gegeben haben, vom Vater auf den Sohn weiterzugeben, was er vom alten Wissen der Toltéca noch bewahrte. Bis zuletzt aus dem Norden neue Völker in dieses Tal eindrangen – gleichfalls primitive Stämme, gleichwohl jedoch imstande, diesen Schatz an Wissen richtig einzuschätzen und sich zunutze zu machen. Neue Völker, begabt mit dem Willen, die langgehütete Glut wieder zu entfachen.«
Der Meister schwieg eine Weile, um ein neues Röhrchen in seinen Halter zu stecken. Viele Männer behaupteten, sie rauchten die Poquiétl, weil ihre Dämpfe ihr Gehirn klar und gesund hielten. Ich selbst habe mir später, als ich älter war, diese Gewohnheit zu eigen gemacht, und gefunden, daß sie mir beim Nachdenken durchaus eine Hilfe war. Aber Neltitica rauchte mehr als jeder andere Mann, den ich je erlebt habe, und vielleicht sind seine ungewöhnliche Weisheit und sein langes Leben auf diese Angewohnheit zurückzuführen.
Er fuhr fort: »Die ersten, die aus dem Norden kamen,
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