Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
ihren Schriften und Aktionen nicht annähernd erreicht hatten.
Anstaltspfarrer Rieder: »Stammheim, der Mythos Stammheim, Hochsicherheitstrakt und wie das immer verhandelt wurde. Ich bin heute noch manchmal innerlich ganz erschrocken, wie diese terroristischen Gefangenen, wie die behandelt worden sind. Wie rohe Eier.«
Solchen Gefangenen war der Rechtsstaat nicht gewachsen. Anstaltsleiter Nusser: »Die Zentrale einer funktionierenden schwerkriminellen Vereinigung, die saß gutbewacht in einer Vollzugsanstalt und hat dort ihre Arbeit weiterhin betrieben mit besten Kontakten nach draußen. Da oben war die Kommandozentrale und hat gearbeitet und hat funktioniert.«
Zwischen 1970 und 1972 hatte die Polizei nach etwa vierzig Personen gefahndet. Jetzt, Ende 1974 , wurden 300 gesucht. Die sogenannte Sympathisantenszene schätzten die Experten des Bundeskriminalamts auf über 10 000 Personen. Der Begriff des »Sympathisanten« wurde immer großzügiger ausgelegt.
Der Tod Holger Meins’ hatte der RAF Auftrieb gegeben.
19. »Das Messer im Rücken der RAF «
Am 29 . November 1974 wurde Ulrike Meinhof in Berlin wegen Mordversuchs bei der Baader-Befreiung 1970 zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Anschließend wurde sie wieder nach Stuttgart-Stammheim verlegt, wo sich Baader, Ensslin und Raspe bereits im siebten Stock häuslich eingerichtet hatten.
Sehen durften sich zu dieser Zeit nur die Frauen einerseits und die Männer andererseits.
Schon vor Beginn des Hungerstreiks hatte Baader an Gudrun Ensslin geschrieben: »Man muß sich darüber klar sein, daß bei diesem Hungerstreik einer oder zwei sterben können – aber sicher nicht mehr. Und die Wirkung wird dann sowieso die Lage aller verändern.«
Doch die Hungerstreikfront bröckelte. In Hamburg hatte Gerhard Müller den Streik abgebrochen, ebenso Margrit Schiller. Sie schrieb an die anderen: »Vor ein paar Wochen, irgendwann während der Aktion, habe ich davor kapituliert, noch RAF werden zu können.«
Sie wolle nicht sterben, und deshalb könne sie sich nicht mehr zur Gruppe zählen.
In Rundbriefen versuchte Gudrun Ensslin immer wieder, die Disziplin aufrechtzuerhalten.
Ende Oktober, also noch vor dem Tod Holger Meins’, äußerten Ulrike Meinhof und Ingrid Schubert Verständnis für den Hungerstreikabbruch von Irene Goergens.
Voller Verachtung schrieb Gudrun Ensslin: »Kampf ohne Konsequenzen … unmöglich ist: die Prinzipien, also den Kampf, Deinen Fotzenbedürfnissen – dem Überleben – unterzuordnen …«
Als in der »Welt« ein Artikel über die angebliche Idylle Stammheim erschien, schrieb sie an Ulrike Meinhof: »
Du
kriegst keinen Befehl. Weil wir keine Gefangenen machen, keine Opfer liquidieren.« Und: »Blickste bei dem ›Welt‹-Artikel durch? Wenn Stammheim die Idylle – kann Ulrike Meinhof nur was sein? Opfer, verrückt, Macke – Deine Linie, seit, weiß ich wann, aber jedenfalls wie’s seit Wochen ununterbrochen ganz ›eisern‹ von Dir kommt gegen uns in diesem Gefecht.«
Am Schluß schrieb Gudrun Ensslin:
»Na warte, die Kostüme der Müdigkeit – wie ich sie satt, wie ich sie gefressen habe, wie sie mir zum Hals raus zehntausendmal um die ganze Welt gehangen und mich erwürgt haben – die raunenden Pastoren, Pfadfinder, Tantchen, fressenden Weiber, Jüngelchen, uralte von Schminke erstickte wesenlose Wesen – wie ich das satt habe: Hunger! Und mal wissen.
Bin ich im Kino oder was, Quäker-Film,
Suppenschildkröte, oder
bin ich: Kampf!«
Andreas Baader nahm den Hungerstreik offenkundig nicht allzu ernst. Einmal erbrach er nach dem Besuch eines Anwalts in der Zelle Hühnerfleisch, ein anderes Mal fanden Vollzugsbeamte bei einem anderen Verteidiger, eingewickelt in ein Taschentuch, 200 Gramm kleingeschnittenes Bratenfleisch, das er als eigenes Frühstück ausgab.
Baader erwies sich immer wieder als Antreiber im gemeinsamen Gefecht. Für seine Notizen an die anderen benutzte er häufig grüne »Chef-Tinte«. An Ulrike Meinhof schrieb er: »Aber Du bist natürlich ’ne liberale Fotze … Du wirst Dich nur im Kampf befreien, aber kaum wie im Kampf
um
Dich wie ein Kreisel. Und natürlich krankt daran auch Deine Produktion …«
An die nicht mehr voneinander getrennten Frauen in Stammheim richtete er die Aufforderung: »Es gibt keine andere Lösung für Euch als Produktion, Suche, Schreiben, Kämpfen. Die Waffen ausgraben, entdecken, erobern. Ach!«
Der zeitweise Zusammenschluß von Gudrun
Weitere Kostenlose Bücher