Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Eindruck, daß Gudrun Ensslin die geistig führende Kraft war. In ihrem kühlen, schizoid anmutenden Temperament erdachte sie unerhörte Gedanken, die Ulrike Meinhof als ehemalige Journalistin zu Papier brachte, damit das schließlich von Baader genehmigt oder abgelehnt wurde. Raspe stand im zweiten Glied gegenüber den anderen drei sogenannten Führungskräften. Baader hat die meisten Anregungen, auch Befehle gegeben.«
Dennoch habe nie einer für sich allein einen Entschluß gefaßt. »Es wurde immer beraten, beschlossen und verkündet. Wenn ich beispielsweise bei der Zwangsernährung gesagt habe: ›Wir geben morgen noch ein bestimmtes Medikament in diese Flüssigkeit, diese Nahrung, sind Sie damit einverstanden?‹ Dann bekam man keine Antwort, es wurde erst beraten. Am nächsten Tag wurde dann ja oder nein gesagt.«
Andreas Baader nahm das Angebot an, seinen hungernden Genossen das Signal für den Streikabbruch telefonisch zu übermitteln. Vom Büro des Anstaltsleiters in Stammheim aus sprach er mit RAF -Gefangenen in Zweibrücken, Berlin, Hamburg und Hannover und ermahnte sie, nach dem Ende der Aktion »nicht gleich zuviel zu essen«, das sei schädlich.
Nach Abbruch des Hungerstreiks durften sich die vier Stammheimer Gefangenen mehrere Stunden am Tag zum »Umschluß« treffen. Im Vergleich mit den Haftbedingungen anderer Untersuchungsgefangener konnte von »Isolation« nicht mehr die Rede sein.
Es begann der Knastalltag. Morgens um 8 . 00 Uhr wurden in Stammheim die Zellen geöffnet. Im Anstaltsjargon hieß das »Aufschluß«. Darauf folgte der »Umschluß«, ein von Andreas Baader erfundenes Wort für die Stammheimer Besonderheit, wonach es den Gefangenen, Frauen und Männern, gestattet war, sich gemeinsam auf dem Korridor zwischen den Zellen aufzuhalten. Das Wort fand Eingang in den Sprachschatz des Vollzugs in Stammheim und anderswo.
Zumeist, so erinnerte sich der Vollzugsbeamte Horst Bubeck im Gespäch mit seinem Biographen Oesterle, war Jan-Carl Raspe morgens der erste, der frischrasiert und gekämmt auf den Umschlußflur trat, um sein Frühstück einzunehmen. Er grüßte die Beamten und machte sich an die Lektüre der vier Zeitungen und Zeitschriften, die jeder der Gefangenen für sich abonnieren durfte. Häufig schnitt Raspe dann Artikel über die RAF aus und klebte sie zu einer Art Pressespiegel für seine Mitgefangenen auf. Baader kam als letzter aus seiner Zelle, nach Bubecks Erinnerungen »ungekämmt und unrasiert, minutenweise geschüttelt von seinem Raucherhusten, oft mürrisch gegen den Vollzug wie auch gegen seine Genossen«.
Die Häftlinge hatten Radios und Fernsehgeräte in ihren Zellen. Auf dem Gang lagen Kissen und Decken. Die von den Beamten zur Verfügung gestellten Stühle wurden selten benutzt. Die Gefangenen trugen zumeist keine Schuhe, sondern dicke Wollsocken, auf denen sie zuweilen nach kurzem Anlauf auf dem blanken Linoleumboden herumschlitterten. Baader trug am liebsten ein heraushängendes, nicht geknöpftes Hemd, die anderen T-Shirts oder Pullover. Ein Beamter, der auf einem Stuhl am Gitter zum Flur saß, beobachtete die Gefangenen ständig, wenn sie sich im Umschlußflur aufhielten, diskutierten, rauchten, stritten oder lasen. Die Entfernung war vom Gericht vorgegeben worden: siebeneinhalb Meter, damit die Beamten »sehen, aber nicht hören konnten«. Sie konnten dennoch mithören, daß die Gefangenen über alles sprachen, nur nicht über ihren Prozeß. Sie machten dem Gericht darüber Meldung, mit dem Erfolg, daß der Abstand auf fünfzehn Meter verdoppelt wurde, wie sich Bubeck erinnerte.
Gelegentlich foppten die Häftlinge die Beamten. Einmal stellten sie dem Diensthabenden einen tragbaren Fernseher, in dem gerade »Die Sendung mit der Maus« lief, hin, mit den Worten: »Das ist das richtige für dich, du Idiot.« Ein anderes Mal bastelten sie aus Zeitungspapier, einem Pullover und einer Strumpfhose eine Figur und setzten sie auf den Stuhl des Aufsicht führenden Beamten, als der kurz den Zellentrakt verlassen hatte. Die Gefangenen lachten, und Bubeck, der von den Kollegen dazugerufen wurde, stimmte mit ein und sagte: »Entschuldigung, aber fehlt da nicht der Kopf?« Baader hörte auf zu lachen und sagte: »Wieso? Einer wie du braucht keinen Kopf.« Kurz darauf hing über der Figur ein Schweinekopf, ausgeschnitten aus einer Illustrierten. Da stimmte der Frontverlauf wieder.
Die Gefangenen, die in ihren Zellen ja unendlich viel Zeit hatten, suchten ständig
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