Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
nach Möglichkeiten, das Gefängnissystem zu unterlaufen. Vor allem Jan-Carl Raspe bastelte ununterbrochen. Er konstruierte Tauchsieder, mit denen auch außerhalb der erlaubten Zeiten Kaffeewasser heiß gemacht werden konnte. Aus den metallenen Drehscheiben von Plattenspielern oder Keksdosen baute er Öfchen, auf denen über einer Kerzenflamme Spiegeleier gebraten und sogar Pizzas gebacken wurden. »Fast jede Nacht«, so erinnerte sich Bubeck, »wehten Essengerüche durch den siebten Stock.«
Raspe hatte eine Vorliebe für eine bestimmte Zahnpasta, die ihm die Vollzugsbeamten beschaffen mußten. Tatsächlich war es nicht die Creme, sondern die Tube, auf die er es abgesehen hatte. Sie war nämlich aus Blei, das er für die Fälschung von Polizeisiegeln brauchte, mit denen die Radios und Plattenspieler nach ihren regelmäßigen Kontrollen verplombt wurden.
Raspe versuchte auch, aus Obst, dessen stinkende Überreste später in Irmgard Möllers Zelle gefunden wurden, Schnaps zu brennen. Auch Haschisch wurde gelegentlich entdeckt – oder zumindest gerochen.
Eine wichtige Rolle im Hochsicherheitstrakt spielten nach Bubecks Erinnerung Eier. Immer wenn ein Hungerstreik beendet wurde, tranken die Gefangenen rohe Hühnereier in großer Zahl, um wieder zu Kräften zu kommen. Sonst ließen sie die Eier in der Stockwerksküche der Haftanstalt nach genauen Anweisungen hart oder weich kochen. Baader bevorzugte Dreieinhalb-Minuten-Eier. Als ein Beamter es einmal ablehnte, seinen Wünschen nachzukommen, fauchte Baader ihn an: »Wenn ich will, dann legst du sogar ein Ei.«
Bei einer Zellendurchsuchung durch das Landeskriminalamt, erinnerte sich Bubeck, stießen die Beamten auf einen Sechserkarton Eier. Sie verlangten nach einer Schüssel, um die Eier allesamt aufzuschlagen – schließlich hätten Kassiber darin versteckt sein können. Bubeck zu seinem Biographen: »Ich habe mich auf die Hinterbeine gestellt, um die Eier der RAF zu schützen, aber der Polizist wollte nicht nachgeben. Sechs zerdepperte Eier konnten den Frieden im siebten Stock extrem gefährden. Und wir waren es doch, die mit diesen Leuten auch weiterhin Tag für Tag auskommen mußten. Schließlich einigten wir uns darauf, die Eier einzeln und der Reihe nach mit einer starken Lampe zu durchleuchten. Das Ergebnis war gut: Kassiber und andere verbotene Dinge waren darin nicht zu entdecken.«
Wenn die Beamten mit den Gefangenen sprachen, nannten sie diese »Herr Baader«, »Frau Ensslin« oder »Frau Meinhof«. Die Häftlinge waren weniger höflich, sie redeten die Beamten höchstens mit ihren Nachnamen an, vor allem Baader aber hatte ein großes Repertoire von Schimpfwörtern: »Arschloch, Drecksau, Wichser, Schwein«. Seine Lieblingsfloskel war »Na warte«, so als würde er zu gegebener Zeit mit den Beamten schon noch abrechnen. Wenn sie untereinander über ihre Schützlinge sprachen, benutzten die Aufseher die Namen »Andi« für Baader, »Karle« für Raspe, »Rike« für Ulrike Meinhof und »Gudrun« für Gudrun Ensslin.
Es war eine Kommune des Schreckens im siebten Stock der Vollzugsanstalt Stammheim, und das Kommando hatte nicht das Wachpersonal. Im Befehlston, wenn auch mit bürgerlicher Anrede, forderte Ulrike Meinhof: »Herr Bubeck, ich möchte wissen, was dieser Kopfhörer kostet. Yamaha. Wenn er unter 200 Mark kostet, bestellen Sie ihn gleich!« Bubeck bestellte den Kopfhörer und gab die Rechnung auf Ulrike Meinhofs Anweisung an Rechtsanwalt Otto Schily weiter. Der aber wollte sie nicht annehmen: »Sagen Sie ihr, daß ich der Anwalt bin und nicht der Weihnachtsmann.«
Als Gudrun Ensslin sich im Zellengang von einer Leuchtstoffröhre geblendet fühlte, forderte sie den stellvertretenden Vollzugsdienstleiter auf, die Röhre sofort zu entfernen. Als der sich weigerte und ihr sagte, sie könne sich ja auch ein Stück weiter setzen, lief sie in ihre offene Zelle und kam mit einem Besen zurück. »Bubeck, so machen wir das Licht aus«, rief sie und stieß mit dem Besenstiel die Neonröhre in Trümmer.
Baaders Lieblingswort, so erinnert sich Bubeck, war »explizit«. Und wenn Gudrun Ensslin dem Anstaltspersonal gegenüber durch komplizierte Wortwahl ihre Bildung demonstrierte, antwortete Bubeck: »Frau Ensslin, bitte auf deutsch!«
Es war ein Kampf »Universität gegen Volksschule«, meinte später der Vollzugsbeamte. Nicht immer siegte das eingesperrte Bildungsbürgertum. Einmal beschimpfte Baader den beleibten Vollzugsbeamten Stoll als
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