Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)
Raum bewährt und galt, trotz seines verhältnismäßig niedrigen Ranges, bei den Palästinensern etwas. Vor allem hatte er erstklassige Beziehungen zu Abu Hassan. Er hatte den Deutschen mehrmals Zugeständnisse gemacht. Frauen und Männer konnten zusammen übernachten, sie hatten sogar ein eigenes Haus bezogen.
Die Gäste begriffen wenig von fremden Traditionen. Während des »Streiks« sonnten sich weibliche Gruppenmitglieder auf dem auch für die Fedayin einsehbaren Dach des Hauses, und zwar nackt. Die jungen palästinensischen Kämpfer hatten zumeist noch nie vorher in ihrem Leben eine nackte Frau gesehen und wurden unruhig.
Dem Algerier platzte der Kragen: »Wir sind hier nicht am Touristenstrand von Beirut.«
Das hüllenlose Sonnenbaden mußte eingestellt werden. Abends kam es zu heftigen Diskussionen: »Antiimperialistischer Kampf und sexuelle Befreiung gehören zusammen.« Oder, um es mit den Worten Baaders zu sagen: »Ficken und Schießen sind ein Ding.« Die Deutschen machten sich Gedanken darüber, wie man die jugendlichen Palästinenser über ihre sexuelle Unterdrückung durch ihre militärischen Führer aufklären könnte.
In den Nächten wurde häufig Gefechtsalarm gegeben. Alle im Lager, auch die Berliner Stadtguerilla, mußten kampfbereit und angezogen die Nacht verbringen. In der Gruppe entbrannten Auseinandersetzungen über die gegenwärtige Praxis und den künftigen Kurs. Am härtesten wurde der Streit mit Peter Homann, der nach der Baader-Befreiung in die Fahndung geraten war, weil er fälschlicherweise für den Schützen gehalten wurde. Er lag quer zu Politik und Führungsanspruch von Andreas Baader. Nach Jordanien war er mitgefahren, um vorerst der Fahndung zu entgehen. Den wirklichen Schützen kannte er, wollte aber dessen Namen nicht nennen, nur um sich selbst aus der Affäre zu ziehen. Aus gemeinsamen Zeiten in der Berliner Künstlerszene kannte er Baader gut, zu gut, um in ihm den künftigen Volkshelden zu sehen. Sie waren mehrmals heftig aneinandergeraten. Homann hatte sich im Camp von den anderen zurückgezogen, besuchte die Fedayin in ihren Zelten und hatte, unter den mißtrauischen Blicken von Baader und Ensslin, einen persönlichen Draht zum algerischen Kommandanten hergestellt. Als alle anderen in ein anderes Haus umgezogen waren, wohnte er allein. Man ging sich aus dem Weg. Aber abends, wenn er auf der Terrasse seines Hauses saß, trug der Wind Wortfetzen aus den Gesprächen der anderen herüber. Er hörte etwas von einem »Volksprozeß« und von einem kurzen Prozeß, den Baader vorschlug, der als Schießunfall getarnt werden könnte. Der größte Teil der Unterhaltung ging im Gekläff der Hunde unter, die im Lager streunten.
Er hatte richtig gehört. In einem Gespräch, das Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Horst Mahler, Ulrike Meinhof, Hans-Jürgen Bäcker und andere führten, ging es um sein Leben. Baader und Ensslin forderten die Liquidierung. Homann sei ein Verräter. Horst Mahler als Rechtsanwalt plädierte für einen Prozeß, und Bäcker und Ulrike Meinhof wollten ihn von den Palästinensern einsperren lassen.
Horst Mahler später: »Und da wurde immer mit Brecht argumentiert. Ich glaube, es ist ›Die Maßnahme‹.« Bertolt Brechts »Lehrstück« über den Umgang mit Verrätern, in dem es um einen jungen Kommunisten geht, der sich ganz dem Kollektiv unterwirft und am Ende seiner eigenen Vernichtung zustimmt, wurde so etwas wie die Standardlektüre der RAF . Mahler: »Es war genau diese Situation: Der hatte noch nichts gemacht, aber galt als Gefahr. Und da ist er eben liquidiert worden im Namen einer höheren Notwendigkeit, um den revolutionären Akt nicht zu gefährden.«
Am späten Abend ging eine der Frauen an Homanns Baracke vorbei.
»Na, was wird?« fragte er. Sie zog eine Patrone aus der Tasche und nahm sie zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Das«, sagte sie und verschwand in der Dunkelheit.
Die Deutschen hatten ihren »Streik« nach kurzer Zeit beendet. Eines Tages kam wieder einmal Abu Hassan, der Kommandeur der Ausbildungslager der PLO , zu einem Kontrollbesuch ins Camp. Bei dieser Gelegenheit wollte er den unzufriedenen Gästen einen Überblick über die politische und militärische Lage des palästinensischen Befreiungskampfes geben, um sie mit den Verhältnissen besser vertraut zu machen.
Doch er konnte seinen Vortrag nicht zu Ende bringen. Immer wieder wurde er unterbrochen. Die Deutschen hörten nicht zu und meldeten statt dessen neue Forderungen
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