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Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition)

Titel: Der Baader-Meinhof-Komplex (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Aust
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zersplittert war, hatte sie den Wagen in der Nähe des Unfallortes stehengelassen. Als Holger Meins das Auto wenig später abholen wollte, waren alle vier Reifen durchstochen.
    Einige meinten, es habe sich wohl um den Racheakt des Besitzers eines der beschädigten Wagen gehandelt. Ulrike Meinhof setzte zu einer umfangreichen politischen Begründung an: »Ich halte das für bedeutsam und für einen berechtigten Akt der Notwehr des Bürgers beziehungsweise der Selbsthilfe, die nicht auf polizeiliche Maßnahmen wartet.« Sie zog Parallelen zu den Selbsthilfeaktionen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung.
    Beate Sturm widersprach: »Für mich sind das nichts weiter als faschistische Umtriebe.«
    »Nein, das ist ein Akt der zum politischen Bewußtsein erwachenden Volkswagenbesitzer gegenüber dem wohlhabenden Mercedes-Fahrer. Das ist ein Fortschritt in Richtung auf das politisch bewußt werdende und selbst handelnde Proletariat.«
    So jedenfalls erinnerte Beate Sturm den Dialog. Solche Argumentationen empfand sie als typisch für Ulrike Meinhof.
    Immer wieder kam die Gruppe zu Besprechungen in Schultes Wohnzimmer zusammen. Er selbst durfte den Raum nicht mehr betreten. Überhaupt kam er nur noch ungern in seine Wohnung und hielt sich statt dessen Abend für Abend in seiner Stammkneipe »Globetrotter« auf. »Das einzige, was ich in meiner Wohnung noch hatte, war mein Bett«, berichtete er später. »Alles andere war der Sozialisierung zum Opfer gefallen.«
    Vor allem Andreas Baader war ihm unsympathisch: »Der sah in seinem Tarnaufzug aus, als hätte er sich einfach eine Tüte Mehl übers Haar geschüttet.« Von Schultes Büchern riß Baader den Einband ab und benutzte deren Rückseiten als Notizzettel.
    Auch Astrid Proll gefiel dem Schriftsteller nicht. Eines Tages, so berichtete er, sei sie zu ihm gekommen: »Schlaf endlich woanders, ich habe es satt, immer auf der Luftmatratze zu pennen.« Für vernünftig hielt er außer Ulrike Meinhof nur noch Jan-Carl Raspe, den er als »feinen, sensiblen Menschen« kennenlernte.
    Die Gruppenmitglieder hänselten den Literaten wegen seiner Bücher, unter denen es zu wenig linkes Schrifttum gebe, und wegen seiner Schallplattensammlung. Er besaß im wesentlichen klassische Musik. Als er aber einmal Tschaikowskis »Vierte« auflegte, fragte »Prinz«, Petra Schelm: »Haste noch mehr davon?«
    Dem Schriftsteller fiel auf, daß die »Gäste« im gegenüberliegenden Supermarkt immer die teuersten Lebensmittel einkauften. Zu trinken gab es nur Fruchtsäfte, lediglich Raspe trank hin und wieder ein Bier. Kurz vor Weihnachten wurde Michael Schulte die Sache zu bunt. Er flüchtete in das Haus eines Onkels nach Mallorca.
    »Diese Zustände in meiner Wohnung sind so nicht abgemacht gewesen«, sagte er zu Ulrike Meinhof und bat sie, dafür zu sorgen, daß seine Wohnung umgehend geräumt würde.
    »Wir ziehen ohnehin bis spätestens Weihnachten woanders hin«, beruhigte sie ihn.
    Den Schlüssel durfte sie vorerst behalten.
     
    Als Schulte am 10 . Januar nach Frankfurt zurückkehrte, war seine Wohnung von Leuten besetzt, die er noch nie gesehen hatte. Nach einigem Hin und Her beschloß der Schriftsteller, seine Wohnung aufzugeben und woanders hinzuziehen. Auf Drängen Ulrike Meinhofs blieb er noch für eine Weile offiziell Wohnungsinhaber und bekam die Miete zurückerstattet.
    Später, von der Polizei festgenommen, erklärte er: »Im Grunde habe ich es aus Gutmütigkeit getan. Leute, hinter denen die Polizei her war, standen mir noch immer näher als die Bullen.«
    So dachten zu jener Zeit viele, die Unterkunft boten. Vor allem alte Freunde und Bekannte Ulrike Meinhofs halfen immer wieder mit Quartieren aus. Sie hatte sich durch die Wohnungsakquise, die fast ausschließlich ihr überlassen war, einen Freiraum geschaffen, in dem sie politisch mit anderen argumentieren konnte. Das war innerhalb der Gruppe immer weniger möglich.

15. Strategiediskussion im Sanatorium
    In den späteren politischen Erklärungen der Gruppe war immer wieder vom »Primat der Praxis« die Rede: »Ob es richtig ist, den bewaffneten Widerstand jetzt zu organisieren, hängt davon ab, ob es möglich ist.« Das sei nur praktisch zu ermitteln.
    In der Illegalität wurde das »Primat der Praxis« höchst banale Realität. Da wurden Wohnungen beschafft, Autos gestohlen, »Geld-Kisten gemacht«, also Banken überfallen. Die Organisation des täglichen Lebens im Untergrund verdrängte zunehmend jede politische Diskussion. Man

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