Der Babylon Code
los. »Wollen Sie mich wieder verarschen wie in Montecassino?« Er hieb mit der Faust auf den Tisch, sodass sein Rotweinglas umfiel. Der Wein ergoss sich wie eine Blutlache über die weiße Damasttischdecke.
Tizzani hob beschwichtigend die Hände.
»Wenn aber die Verdienste des Ordens tatsächlich so überwältigend… deshalb bin ich hier, zu prüfen…«
Die Wände des Raumes waren mit aufwändig gearbeiteten Bücherregalen bestückt, deren kunstvolle Schnitzereien biblische Szenen in Miniatur abbildeten.
Dicht an dicht standen die Bücher und doch nur eines.
Die Bibel.
»Die
Prätorianer
sammeln in aller Welt die unterschiedlichsten Ausgaben der Heiligen Schrift. Ich selbst überwache die Katalogisierung zusammen mit einem ausgebildeten Archivar.« Marvin nickte Lavalle und Brandau zu. »Sie kennen das auch noch nicht, nicht wahr?«
Sie standen in der Mitte der Bücherwand vor einem ausgesparten Bereich. Eine etwa zwei Meter hohe Glasvitrine füllte den freien Raum. Die Vitrine ragte einen halben Meter in den Raum hinein, sodass ihr Inhalt von drei Seiten betrachtet werden konnte. Kleine Sensoren innen am Glas verrieten, dass die Vitrine elektronisch gesichert war.
Zwei gläserne Böden unterteilten die obere Hälfte der Vitrine. Auf den Böden standen kleine Auflagen, die Notenständern ähnelten. An den Seiten waren es auf jeder Ebene zwei, auf der Frontseite je Ebene ein Ständer.
Auf den Ständern lagen zehn Pergamentblätter. Es waren handgeschriebene Seiten mit ausdrucksstarker Schrift, fast gemalt statt geschrieben. Die Farbe der Schrift war blass.
»Wie Sie wissen, wird gemeinhin als älteste vollständige Bibelhandschrift der Kodex B19A der öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg angesehen«, sagte Marvin.
»Der ›Codex Petropolitanus‹. Der älteste vollständige Urtext in Hebräisch«, murmelte Lavalle. »Geschrieben von den Masoreten, welche die in der Konsonantenschrift abgefassten, noch älteren Bibeltexte vokalisiert haben.« In Lavalles Stimme schwang wissenschaftliche Begeisterung mit.
»In einem wesentlichen Punkt muss ich Ihnen widersprechen, Lavalle. Tatsächlich ist der Codex von Aleppo ein paar Jahrzehnte älter und damit die älteste Fassung einer Urbibel.« Henry
Marvin stand mit weit ausgebreiteten Armen vor der Vitrine. Seine untersetzte, bullige Figur strahlte grenzenlosen Stolz aus.
»Aber sie ist leider nicht vollständig erhalten.« Tizzani lächelte. »Darauf lag bei Lavalles Antwort die Betonung, nicht wahr?«
»Sie war vollständig erhalten und enthielt den ganzen hebräischen Bibeltext, der im Umfang allerdings deutlich geringer ist als der Bibeltext der griechischen Diasporajuden.« Marvin grinste selbstsicher.
»Egal. Für uns Christen in der katholischen Kirche ist die ›Vulgata‹ immer noch maßgeblich.«
»Nicht gleich so pikiert, Monsignor Tizzani.« Marvin lächelte amüsiert. »Hier geht es nicht um Glaubensfragen. Ich spreche von einer kulturhistorischen Einmaligkeit.«
Lavalle lachte amüsiert auf. »Tatsache ist jedenfalls, dass es die eine Bibel nicht gibt. Hieronymus’ Übersetzung aus dem vierten Jahrhundert war ja auch ein Versuch, die Differenzen zwischen der hebräischen und der griechischen Bibel zu überbrücken.«
Monsignor Tizzani hob die Hände. »Aus welcher Bibel stammen diese Blätter?«
»Das sind zehn Seiten der fehlenden einhundertzweiundneunzig Seiten des Codex Aleppo.« Marvins Stimme triefte vor Stolz.
Monsignor Tizzani verdrängte Lavalle mit einer herrischen Geste von seinem Platz und starrte schweigend auf die Pergamente.
»Wo haben Sie die her?« Tizzani zerhackte vor Anspannung die Worte zu einzelnen, gedehnten Silben.
»Das ist mein Geheimnis.« Marvin lachte stolz. »1947 stand die Synagoge von Aleppo in Brand, nachdem die Vereinten Nationen die Teilung Palästinas und die Gründung des Staates Israel beschlossen hatten. Der Codex wurde stark beschädigt. Er wurde zerlegt, und Gemeindemitglieder versteckten die Teile. 1959 wurden sie über die Türkei nach Jerusalem geschmuggelt. Nur zweihundertfünfundneunzig Seiten von vierhundertsiebenundachtzig erreichten ihr Ziel.«
»Und das hier…«
»Nun, von den verschwundenen Seiten sind diese zehn heute hier.« Marvins Stimme hatte einen dunklen, drohenden Unterton. »Ich will Ihnen damit nur zeigen, wie ernst die
Prätorianer
ihre Aufgabe nehmen. Denn nun werden wir uns mit dem Sumpf des Heidentums beschäftigen müssen.«
Marvin drückte den Knopf einer
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