Der Babylon Code

Hilfe! Wenn du dich nicht meldest, kannst du mich mal!«

Kapitel 34
    Fontainebleau
Dienstagmorgen
    Schlagartig war Chris wieder an jenem Abend in ihrer Wohnung, sah ihr Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen. Jasmin lächelte spöttisch – und dann war da wieder jener wehmütige Zug, den er sich damals nicht hatte erklären können. Jetzt aber…
    Er sah sie auf dem Stuhl im Labor sitzen, den schmalen Hals kerzengerade, die Schultern gestrafft, sah sie lachend im Restaurant – und dann war da wieder ihre flehende Stimme, ihr Hilferuf…
    »Was muss ich tun, um hier rauszukommen?«, hörte er sich fragen.
    »Zarrenthin – schlagen Sie mir einen Handel vor? Was haben Sie zu bieten?«, fragte Marvin schleimig.
    »Ich soll enden wie Ponti. Ist das Ihr Gottesbild? Der rachsüchtige Gott? Sie kennen die Bibel in-und auswendig, ich nicht. Aber wenn ich mich richtig erinnere, war da doch dieses Bild des gütigen Gottes. Liebe – ist das nicht ein zentrales Thema gerade auch des Christentums?«
    »›
Wer einen Menschen erschlägt, muss mit dem Tod bestraft
werden…
Stets gilt der Grundsatz: Leben für Leben.‹
Drittes Buch Mose, Kapitel 24, Vers 17 und 18. Gottes Gesetz sagt uns, was wir zu tun haben, Zarrenthin. Sie haben getötet. Christen.
Prätorianer
. Beschützer der Heiligen Schrift. Sie hätten die Heilige Schrift lesen sollen. Sie nehmen Gott nicht ernst!« Henry Marvin schüttelte den Kopf, als bedauere er diese Erkenntnis aus ganzem Herzen.
    »Wollen Sie sehen, wie ich auf allen vieren vor Ihnen im Staub krieche und um mein Leben bettele? Sind Sie so einer? Sie und Ihre Leute morden, um an diese Tafeln zu kommen. Sie haben die Tafeln doch längst – was wollen Sie noch?«
    »Wer auf Gott vertraut, wird sein Schicksal in Demut annehmen.«
    »Eins wird mir immer klarer: Ihr Gott ist nicht meiner.«
    »Was ist mit den Knochen? Um welche Probe geht es? Was meint diese Jasmin mit wissenschaftlicher Sensation? Erklären Sie mir den Anruf!«
    »Es gibt nicht viel zu erklären.« Chris schilderte in knappen Worten, wie Forster ihn an der Autobahn überredet hatte, den Transport zu Ende zu bringen, und wie er selbst nach Dresden gefahren war, um mehr über die Knochen zu erfahren.
    »Wie kamen Sie auf die Idee?«
    »Forster hat eine seltsame Bemerkung gemacht. Das wären Knochen eines besonderen Menschen oder so ähnlich.« Chris überlegte kurz. »Ich war neugierig, wollte mehr wissen, habe an eine Altersbestimmung der Knochen gedacht. Forster hatte viel über die Tafeln erzählt, aber kaum etwas über die Knochen. War eine meiner spontanen Ideen.«
    »Und weiter?«, fragte Marvin lauernd.
    »Nichts weiter. Anhand der Knochenstruktur war nicht absolut sicher zu erkennen, ob es tatsächlich Knochen eines Menschen waren. Deshalb sollte mein Freund eine DNA-Analyse machen. Aber die Probe war tot. Ich kann Ihnen den Anruf nicht erklären!«
    »
›Höret, wie Nebukadnezar seinen Gott ehrte: Ich zog gen Osten, besiegte Kišh, einte Reich und Herden, reinigte die Tempel und brachte die Gebeine des Hirten nach Babylon. Ich baute einen Tempel zu Ehren Ninurtas, ehrte Marduk und brachte ihm zu Ehren die sieben Tafeln und die Gebeine des Hirten dar.‹
« Marvin machte eine Pause, ließ die Worte nachhallen. »So steht es auf den Tafeln, Zarrenthin. Sind das die Gebeine des Hirten?«
    »Was für ein Hirte? Ich kenne nicht einmal den Text der Tafeln! Kapieren Sie das endlich!« Chris schrie wutentbrannt auf und trat mit dem Fuß gegen die Wand. Dann erinnerte er sich an die Hunde und sah zu ihnen, aber die Tiere saßen wie in Stein gemeißelt auf ihren Hinterläufen.
    »Sie kennen die Bedeutung eines Hirten, Zarrenthin?«
    »Hirte! Schäfer! Beschützen ihre Herden. Was soll das, Marvin?«
    Plötzlich hallten Orgeltöne durch das Gewölbe. Marvin hob die Hand und blieb wie ein Denkmal stehen, bis die Töne verklangen.
    »Hören Sie die Orgel, Zarrenthin? Sie wird eingestimmt. Für den Gottesdienst. Das ist der Unterschied zwischen uns. Ich werde heute zum Hirten der
Prätorianer
gewählt.« Marvin lachte. »Sind Sie ein Hirte? Haben Sie die Fähigkeit zum Hirten? Ich glaube nicht. Ich dagegen schon. Zarrenthin, der Hirte hat die Macht, Gnade walten zu lassen. Erzählen Sie mir, was Sie wissen, und Ihnen soll Gnade widerfahren!«
    »Sie spinnen!«, brüllte Chris. Wieder war das Surren des Motors zu hören, und die linke Stirnwand der Grube öffnete sich halb. Ein Schaf betrat zögernd die Grube, blieb stehen, während sich