Der Bär
Rodenstock und setzte ihn sofort unter Druck. »Darf ich Sie bitten, sich kurz zu fassen? Wir haben sehr viel zu tun.«
»Natürlich, natürlich.« Er räusperte sich, er war vorbereitet. »Also, meine Tochter Tessa, die Sie ja wohl schon kennengelernt haben, will ihre Doktorarbeit ausgerechnet über einen Totschlagsfall schreiben, der sich in Gerolstein im Jahre 1888 abgespielt hat. Tessa ist Historikerin. Ob das überhaupt ein Thema ist, weiß ich nicht. Aber sie hat es sich in den Kopf gesetzt, und wie ich sie kenne, wird sie das durchziehen. Sie hat irgendwelche Akten ausgegraben, preußische, soweit ich weiß. Ob es in Gerolstein dazu Material gibt, weiß ich nicht. Aber meine Vermutung geht dahin, dass sie viel Staub aufwirbeln wird, genauer gesagt, Dreck. Ich bin leitender Angestellter der Gerolsteiner Brunnen GmbH und Co., ich bin jemand, der aus Gerolstein ist, ich habe mich hochgearbeitet, ich genieße - in Maßen natürlich - Ansehen. Wenn meine Tochter diesen Fall beschreibt oder darüber schreibt, wird zwangsläufig nahezu die gesamte Elite der Stadt von damals unter die Lupe genommen, denn offensichtlich war diese Elite irgendwie beteiligt. Nun bin ich von höchster Seite der Stadt gebeten worden, meine Tochter dahingehend zu beeinflussen, dass sie diesen Plan fallen lässt. Sie würde garantiert führende Familien verschrecken, sie würde einen Riesenwirbel erzeugen.« Er wedelte mit seinen Händen. »Ich hatte gestern Streit mit Tessa.« Er lächelte schmal. »Das ist nichts Neues, sie war schon immer ein eigenwilliges Kind. Aber diesmal war es geradezu böse. Das tut mir leid. Sie wird Sie, meine Herren, ja um Hilfe gebeten haben, und ich möchte Sie bitten, mich zu verstehen. Das kann existenzgefährdend für mich werden, zumindest wird es meinen guten Ruf zerstören. Das kann ich nicht hinnehmen.«
»Also«, begann Rodenstock, »zum Ersten halte ich Ihre Meinung für begreifbar, aber total falsch. Zum Zweiten haben wir gestern die Leiche des Ermordeten gefunden, ich meine das Skelett. Denn wir helfen Ihrer Tochter bereits. Ich bin alter Kriminalist mit Morderfahrung, Siggi Baumeister hier ist Journalist. Der Fall ist ein gefundenes Fressen für ein gutes Buch. Meine Frau ist niederländische Kriminalistin. Kurzum, der Fall interessiert uns maßlos - natürlich zunächst aus fachlichen Gründen, aber auch wegen des Einblicks in uralte Strukturen. Ich denke, Sie können mich nicht stoppen, ich denke, Sie können niemanden von uns stoppen, ich denke, Sie sollten Tessa nicht stoppen. Helfen Sie ihr, sie ist es wert. Der Fall ist zu weit gediehen, um ihn wieder zu den Akten zu legen.«
»Meine Meinung ist die«, sagte ich. Ich verstand ihn, ich verstand ihn nur allzu gut. »Sie können den Fall nicht mehr aufhalten, weil er bereits zu weit fortgeschritten ist. Was immer Sie tun, jemand wird sich darum kümmern. Selbst wenn Tessa jetzt verbittert abreist, wird jemand vom Trierischen Volksfreund kommen und darüber schreiben. Das ist Fakt. Ich habe selbst Geschichte zu recherchieren versucht. Ich gebe Ihnen mal ein Beispiel, wie so etwas aussieht. Da hat die Stadt Gerolstein im Jahre des Herrn 1933 einem gewissen österreichischen Gefreiten namens Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft verliehen. Und gleichzeitig versuchen mir ehrenhafte Bürger der Stadt unablässig klarzumachen, dass Gerolstein schon immer gegen den Nationalsozialismus gewesen ist. Das ist Geschichtsverfälschung.
Selbstverständlich werden alle Leute, die sich um historische Wahrheiten bemühen, als Nestbeschmutzer eingestuft, aber aufhalten kann sie das letztlich nicht. Es gibt ja auch gute Gegenbeispiele für ehrenhafte Dickköpfigkeit. 1913 zum Beispiel wollten hochangesehene Bürger dem Kaiser Wilhelm II. bei seinem Besuch zur Einweihung der Erlöserkirche die gesamten Felsen über Gerolstein schenken. Munterley, Auberg, das ganze Areal. Sie wollten es Kaiser-Wilhelm-Felsen nennen. Da haben sich ehrenhafte Ratsherren quergestellt. Sie sagten: Das war immer unser Felsen, der soll es bleiben. Und wir wollen nicht, dass unsere Kinder zehn Pfennig Eintritt bezahlen müssen, nur um am Kaiser-Wilhelm-Felsen spielen zu dürfen!
Ich halte das, was Ihre Tochter macht, für höchst ehrenwert. Außerdem halte ich es für notwendig. Wir müssen Geschichte anschauen und als einen Teil des eigenen Lebens begreifen. Ich weiß, das klingt wie das Wort zum Sonntag, aber so ist es nun einmal. Helfen Sie also Ihrer Tochter, Sie haben Verbindungen,
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